| # taz.de -- Claudia Roth: Die Arme der Partei | |
| > Claudia Roth wirft nicht hin, sie will als Parteivorsitzende | |
| > weitermachen. Warum nicht? Annäherung an eine chronisch Unterschätzte. | |
| Bild: Dienen, mal wieder. Claudia Roth am Montag in Berlin | |
| BERLIN taz | Claudia Roth redet oft etwas zu schnell, dazu wischt sie mit | |
| den Armen durch die Luft, als wolle sie ihre Botschaften fett | |
| unterstreichen. Doch an diesem Montagmorgen um 8.01 Uhr tritt eine andere | |
| Claudia Roth mit Schatten unter den Augen an das Mikrofon in der | |
| Grünen-Geschäftsstelle. Vor zwei Tagen hat sie erfahren, dass ihre Basis | |
| sie nicht als Spitzenkandidatin will. In fünf Tagen wird der Parteivorstand | |
| neu gewählt. Die Frage ist: Tut sie sich das noch mal an? | |
| Das Gemurmel der Journalisten erstirbt, im Raum hängt nun die Spannung von | |
| Sekunden, in denen sich ein politisches Schicksal entscheidet. Ruhig redet | |
| Roth über die „herbe Klatsche“. Über Zweifel und die große Zerrissenheit, | |
| die sie überkommen hätten. Über Hunderte Mails von Unterstützern. | |
| Dann formuliert sie zwei entscheidenden Sätze, die das ganze Drama der | |
| Claudia Roth enthalten. „Es geht nicht um mich, um meine Enttäuschung.“ | |
| Roth schaut hoch. „Es geht mir – mal wieder – um den Erfolg der grünen | |
| Partei.“ Dienen, mal wieder. Spätestens jetzt ist klar, dass sie | |
| weitermacht. | |
| Claudia Roth, 57, die Rekord-Chefin mit dem berühmt-berüchtigten Hang zur | |
| Emotionalität, führt die Grünen seit knapp zehn Jahren, mit einer neuen | |
| Amtszeit wären es zwölf. Damit spielt sie längst in einer | |
| Parteivorsitzendenliga mit Angela Merkel. Eigentlich wollte Roth diese | |
| Karriere 2013 krönen. Sie hätte große Lust, Außenministerin zu werden, | |
| vielleicht auch Entwicklungsministerin. Endlich den Lohn einfahren, für all | |
| die Kärrnerarbeit, das Herumreisen, die Umarmungen. | |
| ## Die ganze Karriere kippt | |
| Solche Träume stehen nun dahin. Ihre ganze politische Karriere kippt | |
| gerade. Und dennoch wirft sie nicht hin. | |
| Bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses war die Urwahl, die Roth selbst | |
| anstieß, ein merkelesker Schachzug: Sie torpedierte einen Alleingang | |
| Trittins, der geschäumt haben soll. Sie konterte die Realo-Jungs aus, die | |
| wochenlang aufgeregt durch Berlin rannten, um eine achtbare Konkurrentin | |
| aufzutreiben. Und sie brachte sich im grünen Machtpoker selbst geschickt | |
| mit zwei Argumenten ins Spiel, die so stark waren, dass ihre Gegner sie in | |
| sämtlichen Parteigremien brav abnicken mussten: Basisdemokratie und Frau, | |
| mehr geht nicht. Was für eine Ironie, dass die Abstimmung Roth als | |
| Gedemütigte zurücklässt. | |
| Ein Mittwoch Ende Oktober, Claudia Roth absolviert einen ihrer | |
| 18-Stunden-Tage. Morgens Vorstand, mittags Einweihung des Mahnmals für die | |
| ermordeten Sinti und Roma, danach Gespräch mit DFB-Funktionären, | |
| nachmittags Kulturausschuss. | |
| Es dämmert schon in Berlin, als sie aus dem Bundestag eilt und sich in die | |
| BMW-Limousine schwingt, nach vorn auf den Beifahrersitz, wie immer. Die | |
| Fahrt geht nach Rostock, knapp drei Stunden, zu einem der Urwahl-Dates mit | |
| der Basis. Roth schaut nur aus dem Augenwinkel nach hinten, Verspannung im | |
| Nacken. Treten Sie wieder an, wenn Sie ein schlechtes Ergebnis bekommen? | |
| „Ich möchte wieder antreten, ja.“ Was würde sie verletzen? „Die Claudi | |
| kommt ja sowieso. Egal, ob sie Spitzenkandidatin ist oder nicht. Wenn eine | |
| solche Überlegung der Mitglieder mich Stimmen kostet, dann wäre das | |
| bitter.“ Sie will nicht selbstverständlich sein. Roth schweigt. Der BMW | |
| rast gen Norden. | |
| ## In die Ecke gestellt | |
| Genau das ist passiert. Der scheinbar unerschütterliche Pakt der Claudia | |
| Roth mit der Basis scheint aufgelöst. Sie wurde in die Ecke gestellt. | |
| Entweder, weil die Basis ihrer überdrüssig war. Oder weil sie, wofür viel | |
| spricht, Roth nicht als Spitzenkandidatin, aber weiter als Chefin haben | |
| wollte. | |
| Auf Claudi ist Verlass. Roth kennt fast jeden Kreisverbandschef persönlich, | |
| mit eiserner Disziplin pflegt sie den Kontakt zur Basis. Über ihr | |
| Engagement kursieren unter Parteifreunden respektvolle Witze. Treffen sich | |
| zwei Grüne zum Skat. Sagt der eine: Ruf doch mal eben Claudia an! Andere | |
| Spitzengrüne lassen ihr Büro aushandeln, dass mindestens hundert Leute da | |
| sein müssen, bevor sie anreisen. | |
| Als 2011 Landtagswahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern war, diesem großen, | |
| weiten Land mit gerade mal 1,6 Millionen Einwohnern und einem | |
| Mini-Landesverband mit 570 Mitgliedern, da setzte Roth sich in ihren | |
| weiß-grün lackierten Opel-Bus, fuhr in Dorfkneipen und Kleintheatersäle, | |
| schlief nachts auf der Rückbank, 4.500 Kilometer lang. „Mein Bus, mein | |
| Team, das ist ein geschützter Raum“, sagt Roth. Die Wahlkämpfe, die Fahrten | |
| durchs Land, die Gespräche mit den Leuten, Roth liebt das. | |
| ## Bus mit Teppich und Tischdecke | |
| Ihren Bus hat sie mit Teppich und Tischdecke ausstaffiert, ihre Mitarbeiter | |
| stellen frische Blumen in eine Vase. So wie Claudia Roth über all dies auf | |
| der Autobahnfahrt schwärmt, sprechen andere über ihre Familie. Die Grünen | |
| sind für Roth Heimat, was ein naheliegender Gedanke ist. Aber Roth hat ihr | |
| Leben mit einer Kompromisslosigkeit der Politik untergeordnet, wie es Grüne | |
| nachfolgender Generationen nie tun würden. | |
| Über ihre überschwängliche Art haben sich viele lustig gemacht. Roth | |
| geringzuschätzen, das hat Tradition, gerade unter männlichen Journalisten. | |
| Es gab Auf und Abs, jetzt gerade ist es wieder schlimm mit den Abwertungen. | |
| Diese „Übermutti mit weit aufgerissenen Augen“ (Spiegel Online) nervt eben | |
| fürchterlich. Sie ist die letzte Provokation, die die spießigen Grünen für | |
| das Bildungsbürgertum noch bereit halten. | |
| Abgesehen davon, dass es doch etwas arg Reaktionäres hat, Claudia Roth | |
| immer noch nach ihrer Optik zu beurteilen: Die Klamotten gehören zu ihrem | |
| Markenkern. Ihre Flatterschals und teppichartigen Brokatgewänder sind für | |
| Claudia Roth das, was für Angela Merkel ihre aprikotfarbenen oder | |
| grasgrünen Blazer sind. Berufskleidung. Als sie der Süddeutschen Zeitung | |
| neulich in München einen Redaktionsbesuch abstattete, wollte ein Journalist | |
| ihr aus dem Mantel helfen. „Das ist mein Kleid“, war Roths knappe und | |
| ziemlich lustige Antwort. Solch feine Selbstironie sucht man unter | |
| Spitzenpolitikern lange vergeblich. | |
| ## Reichlich professionelle Biegsamkeit | |
| Vor allem aber werden Abwertungen Roths Rolle in der Partei nicht gerecht. | |
| Dass sie, die chronisch unterschätzte Parteilinke, die Flügel zusammenhält, | |
| attestieren ihr auch knallharte Realos. Roth, die angeblich Flattrige, | |
| beherrscht nicht nur beinharte Machtpolitik, sondern sie besitzt auch | |
| reichlich professionelle Biegsamkeit. Das hat sie oft genug bewiesen. Hartz | |
| IV, Afghanistankrieg, Merkels Atomausstieg – die Linke unterschrieb die | |
| Zugeständnisse an die Regierungsmacht nicht nur, sie brachte auf den | |
| Parteitagen auch die Basis dazu mitzuziehen. | |
| Es ist eine kluge Strategie, die perfekt zu den Grünen passt. Roth lässt | |
| Dinge an sich heran, wahrt sich ihre Authentizität. Aber sie weiß diese | |
| Betroffenheit strategisch zu nutzen. | |
| Claudia Roth ist, hört man von vielen, deshalb die Einzige, auf die Jürgen | |
| Trittin im inneren Führungskreis wirklich hört. Der mächtigste Grüne weiß, | |
| dass ihm das feine Sensorium für die Basis fehlt. Nun ist Dankbarkeit keine | |
| politische Kategorie, bei den Grünen schon gar nicht, die ihre Chefs | |
| traditionell gern abwatschen. Etwa 2002, als Roth wegen der Trennung von | |
| Amt und Mandat den Vorsitz abgeben musste. | |
| Theo Zwanziger, 67, roter Pulli unter dem Sakko, faltet in der Lobby des | |
| Radison Blu am Hamburger Flughafen die Hände vor dem Bauch. Der einst | |
| mächtigste Mann des Deutschen Fußballbundes nimmt sich eine halbe Stunde, | |
| um über seine Freundin zu reden. Er findet, dass Medien ungerechte | |
| Klischees über Roth reproduzieren. Etwas zu emotional zu sein sei doch eine | |
| vernachlässigbare Schwäche, sagt Zwanziger. Dann erzählt er, wie sich Roth | |
| im DFB, diesem arg nach Männerschweiß duftenden Funktionärsbetrieb, | |
| Anerkennung erarbeitete. „Claudia kommt immer. Sie ist da. Egal, wie | |
| stressig der Tag war.“ | |
| ## Die unbedingte Hingabe | |
| Da ist sie wieder, die unbedingte Hingabe der Claudia Roth an ihren Beruf. | |
| Für die Politik verzichtete sie auf Kinder, sie hat keinen Partner. Wenn | |
| die Politik plötzlich nicht mehr da wäre, wäre da bei ihr nicht mehr viel. | |
| Oder zumindest weniger als bei ihren männlichen Kollegen, denen die Frau | |
| die Familie organisiert. | |
| Donnerstag vergangene Woche, zwei Tage sind es noch bis zum | |
| Urwahl-Ergebnis. Roth serviert Kaffee in ihrem Bundestagsbüro, zeigt ihr | |
| Erinnerungsregal – ein Foto aus Afghanistan, eine Rose aus Messing, ein | |
| Geschenk von bayerischen Spenglergesellen. | |
| Sind die Grünen Familie für Sie? „Nein. Familie, das ist meine Mutter, | |
| meine zwei Schwestern. Die Grünen sind kein Familienersatz. Aber sie sind | |
| mein Lebensinhalt.“ Wie kommen Sie mit Alleinsein klar? „Ich bin eine | |
| expressionistische Person, ich liebe Menschen. Wenn ich abends in meine | |
| Wohnung komme, ist das Umschalten von der öffentlichen zur privaten Claudia | |
| manchmal schon schwer.“ In einem Interview hat Roth mal erzählt, dass sie | |
| manchmal um drei Uhr vor dem Fernseher aufwache und den Mantel noch anhabe. | |
| Es hat bei Roth, anders als bei anderen Politikern, etwas Unverstelltes, | |
| wenn sie über Privates spricht. Auch deshalb, weil sie große Themen nicht | |
| meidet. Einsamkeit. Eitelkeit. Peinlichkeit. Da rennt, dieser Eindruck | |
| bleibt, eine Spitzenpolitikerin ohne die üblichen Sicherungsleinen durch | |
| die Republik. Und ja, natürlich macht sie weiter. Sie kann gar nicht | |
| anders. | |
| 12 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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