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# taz.de -- Kolumne Darum: Kein Vergessen, niemals!
> Über Altersarmut kann ich nur lachen! Meine Kinder werden jeden Cent
> zurückzahlen, den sie mich kosten.
Bild: Geduld haben du musst.
Niemand weiß es, und das soll auch so bleiben. Seit Jahren führe ich
Protokoll über alles, was meine Kinder mir rauben: Geld, Zeit, Kraft,
Nerven. Jede Windel und jedes Gläschen wurden in der seit nun 10 Jahren
bestehenden Excel-Tabelle vermerkt – genauso wie heute Taschengeld,
Sammelbilder, abgelaufene Schuhe und verlorene Handschuhe. Alles kommt in
diese Liste, die Zwischensumme ist bereits fünfstellig.
Schwieriger zu erfassen sind nichtmonetäre Ausgaben wie der Verlust von
Lebenskraft. Nachts viermal geweckt zu werden, daraus erwächst keine
Ziffer. Also notiere ich schlicht: 23.10.2006: „Nachts viermal geweckt
worden.“ 26.10.2005: „Durchfall bei Kind 2; 23-mal gewickelt.“ 9.4.2007:
„Magen-Darm-Erkrankung von Kind 1; zweimal vollgekotzt worden.“
Damit sind wir auch schon bei den Nerven. Im Protokoll vermerkt ist 244-mal
der Satz: „Ich kann nicht mehr“, davon 199-mal mit Ausrufezeichen. Weiter
steht da noch: „Könnte die Kinder aus dem Fenster werfen“ (12-mal), „kö…
Kind 1 aus dem Fenster werfen“ (5-mal), „könnte Kind 2 aus dem Fenster
werfen“ (5-mal). Krisengespräche mit der Kindesmutter, die sich nur um
unsere Kinder drehen: 65. Krisengespräche mit der Kindesmutter, die sich
nur darum drehen, dass wir wegen der Kinder keine Zeit mehr für uns haben:
56.
Weiter im Protokoll: Zeit. Hier tauchen noch mehr Zahlen auf.
Memory-Spielen: 99 Stunden, gemeinsam Benjamin-Blümchen-Kassetten hören:
227 Stunden. Aus Büchern vorlesen, die keine vollständigen Sätze haben: 661
Stunden. Hausaufgabenhilfe 486 Stunden. Auf dem Fußboden beim
So-tun-als-spielte-man-gern-mit-bunten-Pferdchen-oder-Aliengelumpe
verbrachte Zeit: 7.550 Stunden. Und. Und. Und.
## Bin ja kein Unmensch
Die Protokolle erfassen alles. Sie lügen nicht. Und sie sind die Basis für
meinen perfiden Plan, der in 25 Jahren zur vollen Entfaltung kommen wird.
An Kindern rächt man sich nicht. Sie sind liebe, schutzbedürftige Wesen.
Auch Jugendliche und junge Erwachsene haben das Recht darauf, von
nachtragenden Eltern verschont zu bleiben. Im Jahr 2037 aber werden meine
Kinder 32 und 35 Jahre alt sein. Sie werden mitten im Leben stehen und
Verantwortung übernehmen müssen. Dann bekommen sie die Rechnung.
Seit ich diesen Plan habe, lache ich nur noch müde, wenn wieder mal über
Altersarmut in Deutschland diskutiert wird, und schaue verzückt auf die
aktuelle Summe im Protokoll. Das Kindergeld werde ich davon abziehen, bin
ja kein Unmensch. Aber sonst: auf Heller und Pfennig, kein Vergeben, kein
Vergessen, no pasaran! Und die Zeit. Und die Nerven. Und die Kraft.
Im Protokoll meiner Kinder wird am 12.8.2037 stehen: „Nachts viermal von
Papa geweckt worden (zweimal Durst, einmal Alptraum, einmal einfach so).
Morgens dann Gebrüll, weil das Frühstück nicht schnell genug auf dem Tisch
stand. Vormittags laute Rufe bei offenstehender Tür aus der Gästetoilette:
’Abwischen!‘ Mittags zwei Stunden aus der E-taz vorgelesen. Rechnung für
Kaffee und Kuchen im Café: 24,30 Euro. Neuer Gehstock: 550 Euro. Abends
eine Stunde Debatte über die Fehleinkäufe von Werder Bremen in der Saison
2036/37. Ich kann nicht mehr!“
18 Nov 2012
## AUTOREN
Maik Söhler
## TAGS
Kinder
Eltern
Berlin
Kinder
Kinder
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