| # taz.de -- Kolumne Darum: Verlorene Liebesmüh | |
| > Es ist anstrengend, einem rasenden Kind ruhig zu vermitteln, dass man | |
| > nicht immer gewinnen kann. Manchmal möchte man laut schreien – vor Wut. | |
| Bild: Schach bedeutet auch, die eigene Wut in Schach zu halten. | |
| Mit Rumschreien haben wir es zu Hause nicht so. Doch es gibt Ausnahmen. | |
| Einer verliert die Nerven oder einer verliert beim Spiel. Schach, Fußball, | |
| Monopoly – verlieren ist schwierig. Geboren in Siegen („Was ist schlimmer | |
| als verlieren?“) und schon jung in linken Gruppen gelandet, habe ich früh | |
| den Charme der gepflegten Niederlage schätzen gelernt. | |
| Eine der letzten Gewissheiten des Linksseins ist ja, sich auf Augenhöhe mit | |
| Verlierern einzulassen, sich ihre Sache zu eigen zu machen und je nach | |
| Spielart des Linksseins eine Spielneuansetzung mit fairen Regeln zu fordern | |
| (reformistisch) oder als Spielverderber auf den Abbruch des Ganzen | |
| hinzuarbeiten (revolutionär). | |
| Ich bevorzuge schon länger die reformistische Variante, der Sohn schwankt | |
| je nach Spielsituation zwischen revolutionär und reformistisch. Und genau | |
| dort kommt, wie bei Revolutionen üblich, eben Geschrei ins Spiel. Verlieren | |
| fällt jedem Kind schwer. | |
| Kinder sind in ihrer Wahrnehmung radikal ichbezogen und totalitär. Eine | |
| Niederlage beim Fußball kommt einer Ichkrise gleich, zumindest für 20 | |
| Minuten bis 20 Stunden oder wie lange es braucht, bis es ein Eis gibt. Fast | |
| jedes Kind kommt darüber hinweg, lernt also mit der Zeit, mit Niederlagen | |
| zu leben. | |
| Das Problem ist, dass ich aus einer Spielerfamilie komme – Karten, Würfel, | |
| Spielautomaten. Die Großmutter verjubelte noch mit weit über 70 Jahren | |
| einen Teil der Rente am einarmigen Banditen. Wenn sie verlor, verhielt sie | |
| sich wie eine Siebenjährige. Als Linke stellen wir zu Recht die Macht der | |
| Genetik infrage. Doch Zweifel bleiben. Deswegen bin ich besorgt und rede | |
| mit dem Sohn nach Niederlagen, wieder und wieder, teilweise mehr, als es | |
| nötig und gut ist, während er mich dabei anschreit. | |
| ## Kindsdienstverweigerung nicht möglich | |
| Ratlosigkeit macht sich breit. Ich habe den Wehrdienst verweigert, weil ich | |
| mich nicht von tumben Vorgesetzten anschreien lassen wollte. Nun schreit | |
| mich ein Kind an, eine Kindsdienstverweigerung aber gibt es nicht. Es ist | |
| anstrengend, einem Rasenden ruhig zu vermitteln, dass man nicht immer | |
| gewinnen kann. Die Großeltern lassen ihre Enkel gern gewinnen. | |
| Also ist es an uns Eltern, den Kindern Niederlagen zuzufügen, aus denen sie | |
| lernen sollen. Auch macht der eigene Sieg keinen Spaß mehr. Das ganze Spiel | |
| macht keinen Spaß mehr, weil man weiß, was kommen kann. So also fühlt sich | |
| der Reaktionär im Angesicht des Revolutionärs – und der Reaktionär bin | |
| plötzlich ich. | |
| Im Sportbuch „Vierter“, herausgegeben u. a. vom taz-Kollegen Julian Weber, | |
| lese ich: „Vierter ist das Synonym für alle, die es nie aufs | |
| Siegertreppchen schaffen, für die Sport allerdings ein wichtiger Fixpunkt | |
| in der Biografie ist. Ein Synonym für Begeisterung und Leidenschaft am | |
| Sport, egal was am Ende dabei herausspringt.“ Ergänzen wir Sport um Spiel, | |
| ist damit vieles von dem gesagt, was es beim Verlieren zu wissen gibt. | |
| Doch damit brauche ich dem Spielverlierer zu Hause gar nicht erst zu | |
| kommen. „Ich weiß schon, was du mir jetzt sagen willst“, blafft er mich | |
| nach dem Schach an, „dass Verlieren nichts Schlimmes ist. Aber darum geht | |
| es jetzt nicht. Ich bin einfach wütend!“ | |
| Nicht mal mehr zum Verlieren darf ich was sagen. Ich begreife das als | |
| Niederlage. Und könnte schreien vor Wut. | |
| 27 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Maik Söhler | |
| ## TAGS | |
| Kinder | |
| Kinder | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
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