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# taz.de -- Experimentelle Musik in Chemnitz: Reißt die Jugendstilhäuser ab
> Reduzierte Computermusik und dadaistische Elektronik: In Chemnitz brachte
> „Sound Exchange“ experimentelle Musiker aus Mittelosteuropa zusammen.
Bild: Skater und der Karl-Marx-Kopf in der Chemnitzer Innenstadt.
Chemnitz hat in seiner Innenstadt einen imposanten Karl-Marx-Kopf zu
stehen. Mit gutem Grund, war die Stadt zur DDR-Zeit doch nach dem Begründer
des Marxismus benannt worden. Von dieser kaum zu übersehenden Erinnerung an
den realexistierenden Sozialismus abgesehen, wirkt das Zentrum der
ehemaligen Karl-Marx-Stadt keinesfalls auffällig „ostig“.
Als Besucher hat man zunächst einmal den Eindruck von großzügiger Weite,
nüchterner Moderne und gut gepflegten Einsprengseln aus der Gründerzeit.
Tatsächlich gibt es im Stadtteil Kaßberg eines der größten erhaltenen
Gründerzeitviertel Europas. Einige der denkmalgeschützten Häuser werden
mittlerweile jedoch abgerissen.
Nicht zuletzt wegen der hohen Wohnungsdecken und der damit verbundenen
Heizkosten, wie der Musiker Ronald Lippok kurz vor seinem Auftritt beim
Chemnitzer Festival „Sound Exchange“ erzählte – einer dreitätigen
Veranstaltung, die sich ebenfalls Fragen der Traditionspflege widmete,
genauer: der Tradition und Gegenwart experimenteller Musik aus
Mittelosteuropa.
Mittelosteuropa fängt so gesehen in Ostberlin an. Dort gründeten die Brüder
Robert und Ronald Lippok, die heute unter anderem gemeinsam mit dem
Düsseldorfer Bassisten Stefan Schneider unter dem Namen To Rococo Rot Musik
machen, in den Achtzigern die Underground-Plattform Ornament & Verbrechen.
## Die Galerie Weltecho
Mit dieser Ostberliner Formation, die ironischerweise nach einem
jugendstilkritischen Aufsatz des Wiener Architekten Adolf Loos benannt ist,
spielten sie nach 18 Jahren Bandpause jetzt am Freitag wieder in der
Galerie Weltecho.
Seit den Neunzigern ist dieser angenehm karge Ort, ursprünglich unter dem
Namen Voxxx, eine der zentralen Anlaufstellen für experimentelle Musik in
Chemnitz. Für ihre Performance „Béton Brute“ zwischen Betonpfeilern, die
von Kerzen erleuchtet wurden, zeigte sich das Duo von seiner rauesten
Seite: fast martialisch anmutendes rituelles Getrommel mischte sich mit
schroffen elektronischen Figuren, über die Ronald Lippok in bester
Industrial-Manier vereinzelt Parolen wie „Domination, Domination“ rief.
Zum Auftakt des Festivals, das zuvor Stationen in Krakau, Bratislava,
Vilnius, Riga, Tallinn, Prag und Budapest gemacht hatte und das nun zum
Abschluss in Chemnitz Musiker aus den beteiligten Ländern versammelte,
hatte man den ungarischen Komponisten Ernö Király kennen lernen können.
Das Positive Noise Trio aus Budapest spielte Teile seines weitgehend
improvisierten „Flora“-Zyklus, einer grafischen Partitur mit Blumenbildern,
zum Teil auf originalen, von Király entworfenen elektroakustischen
Instrumenten mit so schönen Namen wie „Citrafon“ oder „Tablofon“. Letz…
ist auch in der begleitenden Ausstellung „Visible Music That Anybody Can
Listen To“ in der Neuen Sächsischen Galerie zu besichtigen.
## Sowjetischer Synthesizer und kyrillische Zeichen
Einen bleibenden Eindruck von der schroffen Klanggewalt analoger
Synthesizer sowjetischer Bauart bekam man im Konzert des litauischen DIISSC
Orchestra, das auf Modellen mit kyrillischen Bezeichnungen wie
„Elektronika“ oder „Polyvox“ die Macht der Obertöne zelebrierte.
Noch einen Schritt weiter ging der Chemnitzer Frank Bretschneider mit
seiner Performance, in der er aus den Klängen des Subharchord, eines in der
DDR entwickelten Synthesizers, eine fast psychedelische Tieffrequenzorgie
wagnerschen Ausmaßes entfachte.
Der als Vertreter äußerst reduzierter Computermusik und Mitgründer des
Elektroniklabels Raster-Noton international renommierte Bretschneider war
ebenfalls Gegenstand historischer Betrachtung: In den Achtzigern hatte er
mit der dadaistischen Elektronikband AG Geige in der DDR überraschend
Erfolg.
Der im Anschluss an Bretschneiders Auftritt gezeigte Dokumentarfilm „AG
Geige – ein Amateurfilm“ vermittelte einen guten Eindruck, wie es war, als
künstlerischer Außenseiter in der DDR den Spielraum künstlerischer Freiheit
auszuloten – im Schatten von Marx’ Kopf.
## Bis 2. Dezember „Visible Music“, Neue Sächsische Galerie
20 Nov 2012
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Chemnitz
Karl Marx
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Musik
Berghain
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