| # taz.de -- Kinostart „Tabu“: Traurige Tropen | |
| > Der junge portugiesische Regiesseur Miguel Gomes taucht auf den Grund der | |
| > Filmgeschichte. Dort birgt er einen Schatz namens „Tabu“. | |
| Bild: Die junge Aurora (Ana Moreira) hält Ausschau nach Büffeln und anderem G… | |
| Die Stimme des alten Mannes überspringt den Äquator und 50 Jahre in einem | |
| Satz. „Aurora hatte eine Farm in Afrika“, sagt sie aus dem Off, „am Fuß … | |
| Monte Tabu.“ Die Stimme gehört Ventura (Henrique Espírito Santo) und ist | |
| wie geschaffen fürs Geschichtenerzählen, sanft und rau zugleich, | |
| stundenlang möchte man ihr zuhören. | |
| Etwa die Hälfte von Miguel Gomes’ Spielfilm „Tabu“ ist verstrichen, als … | |
| Satz fällt. Eben noch sitzt Ventura an einem Kaffeehaustisch in Lissabon, | |
| in einem Einkaufszentrum voller tropischer Gewächse, nachdem er die alte | |
| Aurora (Laura Soveral) zu Grabe getragen hat. | |
| Nun sieht man das Close-up der jungen Aurora (Ana Moreira), darauf folgt | |
| eine Einstellung von einem afrikanischen Jungen neben einem Esel, kurz | |
| danach befindet sich die Kamera in einer Kolonialvilla, der Wind bauscht | |
| die Vorhänge. „Segunda parte: paraíso“, „Zweiter Teil: Paradies“, lau… | |
| ein Schriftinsert. | |
| Während zwei Dienstboten den Boden fegen und dabei den Rücken krümmen, | |
| macht Aurora Rumpfbeugen und trabt durch das Wohnzimmer. Fünf Minuten zuvor | |
| hat man die alte Dame zum letzten Mal gesehen, auf einem Krankenhausbett, | |
| in einer überbelichteten Einstellung, das Leben war aus ihr gewichen, sie | |
| glich einem Geist. | |
| ## Eine Farm in Afrika | |
| Auch Tania Blixen hatte eine Farm in Afrika, so wie ihre Wiedergängerin | |
| Meryl Streep in Sydney Pollacks erfolgreichem Film „Jenseits von Afrika“ | |
| (1985), und mit Tabu, dem Namen des Bergs und des Films, erinnert Miguel | |
| Gomes an den gleichnamigen Stummfilm von F. W. Murnau, der von einer | |
| verbotenen Liebe auf einem Südsee-Eiland erzählt: Die junge Frau ist den | |
| Göttern geweiht, und deswegen kann aus ihrer Zuneigung zum jungen | |
| Perlentaucher nichts anderes als Unheil erwachsen. Murnaus „Tabu“ (1931) | |
| hatte zwei Teile, der erste hieß „Paradies“, der zweite „Verlorenes | |
| Paradies“, bei Gomes ist es umgekehrt. | |
| Die Reminiszenzen an Blixen, Pollack und Murnau scheinen von Fernweh und | |
| der Sehnsucht nach exotischen Paradiesen zu künden, doch Gomes’ „Tabu“ i… | |
| eher eine sanfte Dekonstruktion exotistischen Verlangens denn dessen | |
| Bekräftigung. Das Paradies, daran lässt die Einstellung mit dem | |
| Schriftinsert und den gekrümmten Rücken keinen Zweifel, ist eines der | |
| Europäer. | |
| Anders als so viele Afrika-Fiktionen verklärt „Tabu“ die koloniale | |
| Vergangenheit in keinem Augenblick, und der melodramatische Kern, die | |
| verbotene Liebe der jungen Aurora und des jungen Ventura (Carloto Cotta), | |
| die sich im zweiten Teil entfaltet, wird nie ganz ernst genommen. Was ist | |
| eine Amour fou im Angesicht eines aufziehenden Unabhängigkeitskriegs? Nicht | |
| viel mehr als eine falsch verstandene Fußnote. | |
| Die Europäer am Fuß des Monte Tabu produzieren Kissen aus Straußenfedern, | |
| schießen Büffel, covern den Ronettes-Song „Be my baby“ und feuern den Koc… | |
| wenn er aus den Eingeweiden eines Huhns etwas herausliest, was sie nicht | |
| hören wollen. Aber dem Lauf der Geschichte stellen sie sich damit nicht | |
| entgegen. Diese Jeunesse dorée mag eine Bürgerwehr gründen, aber wenn sie | |
| besoffen am halbleeren Pool herumballert, dann unterstreicht sie nur, wie | |
| überkommen das koloniale System ist. | |
| ## Nur die Form ist nostalgisch | |
| 50 Jahre später, im ersten Teil von „Tabu“, im Portugal der Gegenwart, in | |
| den Tagen zwischen den Jahren, ist vom Kolonialreich nicht viel geblieben. | |
| Ein paar Tier-Attrappen, ein Krokodil und ein Tukan im Einkaufszentrum, | |
| eine Giraffe im Park. Außerdem ein diffuses Schuldgefühl, das sich in der | |
| Figur der melancholischen Pilar (Teresa Madruga) abgelagert hat und von | |
| Gomes in halb tragischen, halb komischen Miniaturen zum Vorschein gebracht | |
| wird. | |
| Wenn etwas nostalgisch ist an „Tabu“, dann ist es die Form, die sich dem | |
| frühen Kino anverwandelt. Von der ersten bis zur letzten Szene ist der Film | |
| in Schwarzweiß gedreht, durchgängig hat er das alte Normalformat, die | |
| Bildratio 1:1,37. Im zweiten Teil sind die Bilder so körnig, dass allen | |
| Liebhabern des Schmalfilms das Herz aufgeht. Der Prolog – eine Schnurre um | |
| einen Tropenpionier, der sich aus Gram über den Tod seiner Ehefrau von | |
| einem Krokodil fressen lässt – und der zweite Teil lehnen sich an den | |
| Stummfilm an, die Dialoge sind nicht hörbar. | |
| Eine Erzählerstimme tritt an ihre Stelle, die atmosphärischen Geräusche | |
| jedoch sind zu hören, wenn auch nur als Auswahl. Von der Tonspur perlt | |
| zudem in regelmäßigen Abständen ein Klavierstück, das ein Stummfilmpianist | |
| am Fuß der Leinwand live erzeugen könnte, und in manchen Szenen – etwa am | |
| Krankenbett der alten Aurora – flackert Licht auf den Gesichtern der | |
| Figuren, als würde der Projektor schwächeln. Nach dem Umschnitt merkt man, | |
| dass das Flackern nicht am Projektor liegt, sondern an einer unsteten | |
| Lichtquelle, deren Widerschein auf die Figur fällt. | |
| Gomes ruft die filmischen Ausdrucksmöglichkeiten des frühen Kinos wach, all | |
| die Gesten, die Blicke, die Albernheiten und die Kameratricks, die einst | |
| die Dialoge ersetzten. Sein verlorenes Paradies ist kein namenloses Land in | |
| Afrika, sondern ein Kino, das in dem Augenblick auf den Grund der | |
| Filmgeschichte herabsank, als der Tonfilm aufkam. Mit „Tabu“ birgt Gomes | |
| diesen Schatz. | |
| ## „Tabu“. Regie: Miguel Gomes. Mit Teresa Madruga, Ana Moreira u.a. | |
| Portugal u.a. 2012, 111 Min. Filmstart: 20. Dezember 2012. | |
| 20 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Cristina Nord | |
| Cristina Nord | |
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