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# taz.de -- Romanverfilmung „Life of Pi“: Robinson Crusoe zur See
> „Drehe niemals mit Kindern, Tieren und Wassern.“ Ang Lee hat sich in
> „Life of Pi“ an nichts davon gehalten. Eine Wunderkammer von Film.
Bild: Wie klärt man die Platzverhältnisse im Boot?
Eine Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben wird, hört man nicht
jeden Tag. Piscine Molitor Patel, der nach einem Pariser Schwimmbad
benannte Protagonist aus Ang Lees „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“,
verhält sich ein wenig so wie der Philosoph Blaise Pascal mit seiner
berühmten Wette über die Existenz Gottes. Pascal argumentierte, es sei in
jedem Fall besser, an Gott zu glauben, weil man damit am Ende des Tages
weniger zu verlieren habe.
Piscine, auch kein Freund rein vernunftgerichteter Lösungen, hat zwei
Geschichten parat, in denen er seinem Zuhörer (in einer Rahmenhandlung des
Films) von seinem erstaunlichen Überleben auf hoher See berichtet: Die eine
handelt von ihm und einem bengalischen Tiger namens Richard Parker, mit dem
er 227 Tage in einem kleinen Rettungsboot am Pazifik verbrachte (die
anderen Passagiere, ein Orang-Utan, eine Hyäne und ein Zebra werden Opfer
ihres niedereren Ranges in der Nahrungskette); die zweite Variante ist
weniger spektakulär und erzählt von Menschen, die in Extremsituationen zu
allem fähig sind. Wenn man beide Geschichten kennt, werden die meisten
Menschen die erstere vorziehen. Es ist jene, in der das Unwahrscheinliche
sich mit dem Edlen eint.
Der 1954 in Taiwan geborene Filmemacher Ang Lee hat im Lauf seiner Karriere
immer wieder gezeigt, dass er eine gute Hand für Geschichten hat. Was
Vielfalt von Genre und Stilistik seiner Filme anbelangt, hat er sich als
besonders elastisch erwiesen. Oft wurde es seinem Status als Außenseiter in
der US-Filmindustrie zugeschrieben, dass er aus einer weisen Distanz auf
seine Figuren blickt.
Durch Lees so präzise Beobachtungsgabe wissen sich diese in einer
filmischen Welt fixiert, in lebensnahen Milieus aufgehoben, in denen sie,
oft gegen gesellschaftliche Konventionen, Kämpfe ausfechten – egal ob es
sich um Cowboys handelt, die mit ihrer sexuellen Orientierung hadern
(„Brokeback Mountain“), um eine Mittelstandsfamilie im New England der
1970er Jahre („Der Eissturm“) oder um Schwertfechter in einem Wuxia-Drama
(„Tiger and Dragon).
## Scheinbar ohne Käfige und Zäune
Mit der Verfilmung von Yann Martels Bestseller hat sich Lee nun wieder auf
ein neues Wagnis eingelassen, handelt es sich doch um einen Roman, dessen
fantastische Ideen nur mit Computeranimationen realisierbar sind. „Drehe
niemals mit Kindern, Tieren und Wassern“, sagte der sonst gern
tiefstapelnde Regisseur bei der Premiere des Films beim New York
Filmfestival. „Ich habe mich an nichts davon gehalten.“
Einen ersten Vorgeschmack, auf welch zwingende Weise er mit den
Möglichkeiten der Technologie verfährt, gibt bereits die Eröffnungssequenz,
in der die Tiere eines Zoos scheinbar ohne Käfige und Zäune alle dasselbe
Terrain bevölkern – natürlich in 3-D.
„Life of Pi“ beginnt mit einem längeren Intro in der südindischen Stadt
Pondicherry, die den Zuschauer, wie bei einem Katastrophenfilm, noch von
der Attraktion der Odyssee im Meer fernhält. Der skurril-naive Tonfall, der
den ersten Teil des Films charakterisiert, funktioniert wie eine Finte, da
sie erlaubt, viel Unwahrscheinliches in die Waagschale zu legen. Pi (Ayush
Tandon, später Suraj Sharma) wird aufgrund seines Vornamens – „Piscine“
klingt wie „pissing“ – von seinen Mitschülern gehänselt.
Doch er erweist sich bereits früh als Überlebenskünstler: Er beschließt,
seinen Namen in die mathematische Zahl Pi zu verändern, und wiederholt
diese so lange, bis ihn niemand mehr anders nennt. Eine Episode, die
bereits auf Späteres verweist: Wer seine Geschichte durchsetzen will, muss
hartnäckig bleiben.
Zur Kunst des Fabulierens kommt der eigentümliche Synkretismus des Helden.
Pi, als Hindu geboren, entwickelt einen Hunger nach Weltreligionen, sodass
er am Christentum genauso wie am Islam Gefallen findet – es gibt für ihn
einfach viele Wege zu Gott. Diese Aufgeschlossenheit lässt den Jungen auch
furchtlos den Tieren gegenübertreten, die zum Zoo seines Vaters gehören. In
Richard Parker, dem Tiger, sieht er zuerst die Seele, dann erst das Biest.
## Vermischung stilistischer Einflüsse
Der Film entspricht diesem Weltbild in ästhetischer Hinsicht durch seine
Vermischung stilistischer Einflüsse. Das Indien mit französischem
Kolonialanstrich wirkt wie ein imaginärer Ort, in dem die Familienszenen
wie 3-D-Passepartouts arrangiert sind, nicht ohne Nostalgie für eine Zeit
vor ethnisch-religiösen Zerwürfnissen. „Life of Pi“ ist globales Kino mit
Fairtrade-Gütesiegel. Seine Zuschauer wird der Film sicher nicht nur in
einem spirituell ausgehungerten Westen finden, sondern auch in arabischen
oder asiatischen Ländern.
Doch die eigentliche Prüfung steht Pi noch bevor. Wie viele Helden von
Ang-Lee-Filmen steht er in seinem Leben an einer Schwelle. Die Familie muss
Indien verlassen, am Weg ins Gelobte Land, Amerika, sinkt der Ozeandampfer
mitsamt den Zootieren wie ein Stein ins Meer. Spätestens an dieser Stelle
kann Ang Lee sein großes Talent für das richtige Augenmaß beweisen. Die
Katastrophe markiert den Übergang in einen visuell ungleich
beeindruckenderen Film, der 3-D tatsächlich so inspiriert nutzt wie bisher
wohl nur James Camerons „Avatar“. Der Ozean wird zur Bluebox der Fantasie.
Sie macht es möglich, das Dasein mit wilden Tieren auf engstem Terrain
realistisch zu veranschaulichen – und das bedeutet zuallererst, den Tieren
ihre Animalität zu belassen. Von den funkelnden Augen über grazile
Bewegungen bis zur Beschaffenheit des Fells, stets hat man den Eindruck, es
mit einem richtigen bengalischen Tiger zu tun zu haben. Das Tierische an
Richard Parker setzt schließlich auch erst die Grenze fest, an der sich Pis
Humanität, in Abgrenzung und gleichzeitigen Duldung eines anderen, bewähren
muss.
Das Faszinierende an Überlebensdramen ist, dass es immer kleine,
strategische Manöver sind, die im Vordergrund stehen. Wie klärt man auf
Dauer die Platzverhältnisse im Boot? Wie beschafft man sich und dem Tiger
Nahrung (zumal man sonst selbst an der Reihe wäre)? Wie hält man die Moral
in einer solchen ausweglosen Situation aufrecht?
## Metafiktion übers Geschichtenerzählen
Lee findet für diese „Robinson Crusoe“-Variante zur See eine Reihe von
höchst bemerkenswerten Szenen, die das Überlebensdrama in einem größeren,
kosmischen Ganzen verorten. Die Verfärbungen des Himmels, die
unterschiedlichen Witterungslagen, an die sich der Zustand des Wassers
anpasst, der Sternenhimmel in der Nacht, der sich im Meer spiegelt – in
Landschaftsbildern wie diesen hat der taiwanisch-amerikanische Regisseur
schon immer einen Angelpunkt für das emotionale Gewicht seiner Erzählungen
gefunden.
In „Life of Pi“, dieser Metafiktion übers Geschichtenerzählen, kommt hinz…
dass der Freiheit der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Einmal starren
Pi und Parker wie hypnotisiert in die Tiefe des Ozeans, der sich wie ein
Palimpsest zu immer anderen Formen und Gestalten öffnet, die den beiden auf
ihrer Reise begegnet sind.
Der Film gleicht selbst einer solchen Wunderkammer, in der sich ein
Widerhall von universell gültigen Konzepten von Liebe, Güte und Frömmigkeit
findet. Sie blieben letztlich alle ein bisschen zu vage, um einen
nachhaltig zu beschäftigen. Am Ende ist es vielleicht nur eine Lüge, ein
Trugbild, ein virtueller Schutzschild, das den harten Widersprüchen der
Welt nicht lange standhalten wird.
## „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“. Mit Suraj Sharma, Irrfan Khan u. a.
USA 2012, 125 Min., ab 26. 12. im Kino
24 Dec 2012
## AUTOREN
Dominik Kamalzadeh
## TAGS
Film
Kino
Roman
Irakkrieg
Tom Cruise
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