| # taz.de -- Gentrifizierung auf dem taz.lab: Wir sind keine alten Möbelstücke | |
| > Am Kottbusser Tor in Berlin protestieren Anwohner in einem Camp seit acht | |
| > Monaten gegen steigende Mieten. Vor allem Frauen engagieren sich. | |
| Bild: Do-it-yourself-Protest à la Kreuzberg: wütende Frauen, empörte Männer… | |
| BERLIN taz | Es brennt Licht im selbstgebauten Bretterverschlag, dem | |
| „Gecekondu“ (türkisch für „über Nacht aufgestellt“), das seit Anfang… | |
| Winters am sogenannten Kotti inmitten der Plattenbauten aus den sechziger | |
| Jahren steht. Gebaut haben ihn die AktivistInnen von Kotti & Co. Sie | |
| protestieren gegen rasant steigende Mieten in ihrem Viertel. | |
| Fatma Canan ist eine von ihnen. Die zierliche Frau, die ihren echten | |
| Familiennamen nicht nennen mag, weil sie das Hervortreten immer noch ein | |
| wenig scheut, lebt seit 15 Jahren am Kotti, seit 35 Jahren in Kreuzberg. | |
| „Politisch aktiv war ich früher nie“, erklärt die Diplombauingenieurin in | |
| schnellem Deutsch, „aber jetzt sehe ich: dass sozial gar nicht sozial ist, | |
| dass alles aufs Kapital rausläuft.“ Kämpferisch wirkt die 40-Jährige auf | |
| den ersten Blick jedoch nicht. Tatsache ist: Wer kein Kapital hat, ist arm | |
| dran; 4,90 Euro kalt für einen Quadratmeter findet man am Kotti nicht mehr. | |
| Das frustriert die Anwohner, auch Canan ärgert sich: „Wir haben diesen Kiez | |
| zu dem gemacht, was er ist - nun sollen wir wie alte Möbelstücke weg.“ | |
| Die Unzufriedenheit über steigende Mieten, besser verdienende Zuziehende, | |
| Touristen und dem scheinbaren Nichtstun der Stadt gärt schon lange unter | |
| der öffentlichen Oberfläche. Im Mai schlossen sich die Anwohner zusammen | |
| und machten ihren Unmut sichtbar; zunächst mit einem Zelt voller | |
| Protestparolen, inzwischen mit einem ausgebauten Bretterverschlag. Seither | |
| sitzen dort Männer und Frauen - vor allem Frauen -, die in | |
| Vierstundenschichten demonstrieren und Lärmdemos mit Kochtöpfen | |
| organisieren. | |
| So wie Canan oder die 60-jährige Rentnerin Ulla, die im gegenüberliegenden | |
| Café Südblock selbstgemachte „I Love Kotti“-Sticker und Buttons verkauft. | |
| Kurzum: Diese Protestszene besteht aus jener „tollen Kreuzberger Mischung“, | |
| die vielfältiger nicht sein könnte und die man eben in diesem legendären | |
| Berliner Bezirk vermutet. Auf „ihre Mischung“ sind die Aktivisten denn auch | |
| besonders stolz. „Wir wollen weder, dass sich eine Gruppe noch einzelne | |
| Personen profilieren“, erklärt Canan. Es gebe keinen Sprecher, auch sie | |
| will nicht als solche fungieren. | |
| ## Die Unerfahrenheit im Protestieren | |
| Die meisten von Kotti & Co, auch Fatma Canan, haben keine Erfahrungen mit | |
| der Organisation von Ungehorsam, was eher untypisch für ein Protestcamp | |
| ist. Womöglich hat der Erfolg gerade mit ihrer Unerfahrenheit zu tun: der | |
| Charme der Nichtroutinierten. Könnte jedoch auch sein, dass der Erfolg in | |
| der weiblichen Mehrheit des Camps begründet liegt. Fragt man die Männer, | |
| glauben einige, dass die Frauen mutiger seien. „Vielleicht weil sie zu | |
| Hause die Kasse verwalten oder den besseren Überblick haben?“, überlegt | |
| einer. In jedem Fall seien Frauen gerade bei Verhandlungen ein Pluspunkt: | |
| „Ohne Männer keine Hahnenkämpfe.“ | |
| Während Canan sich mit uns unterhält, sitzen einige Frauen ebenfalls in der | |
| Wärme des neuen Heizkörpers, Tee kocht im Samowar. Eine ältere Frau mit | |
| Brille klopft ans beschlagene Fenster und fragt auf Türkisch, was hier | |
| passiere. Die Erklärung kommt wie aus der Pistole geschossen und aus einem | |
| Mund: „Protesto ediyoruz! Kiralar çok Yüksek!“ - Wir protestieren, die | |
| Mieten sind zu hoch! „Wie, du hast uns hier noch nie gesehen?“, rollen | |
| einige theatralisch mit den Augen. „Dann komm doch mal vorbei“, ruft jemand | |
| der Neugieren zu. | |
| Canan lebt mit ihren zwei Kindern in einer Dreizimmerwohnung: „Meine ältere | |
| Tochter hat überhaupt keine Privatsphäre, doch andere teilen sich zu sechst | |
| eine solche Wohnung.“ Die Sozialwohnungen seien bereits überbelegt. Eine | |
| günstigere Wohnung findet sie in Kreuzberg nicht, nach Hellersdorf oder | |
| Marzahn im tiefen Osten der Stadt will sie nicht, schließlich ist ihr | |
| Umfeld hier. Als vorigen März viele Mieter, unter ihnen Canan, | |
| Mieterhöhungsbescheide von 58 Cent pro Quadratmeter erhielten, schlossen | |
| sie sich zusammen. Setzten sich mit dem Eigentümer in Verbindung, | |
| organisierten Beratungen zu den Betriebskosten, Konzerte und Theaterstücke | |
| und sprachen mit Politikern. | |
| Die Empfehlung lautete immer gleich: Ihr müsst Druck machen. So kam es zum | |
| Gecekondu und zu den Lärmdemos. Gekannt hatten sie sich schon vorher, das | |
| übliche Hallo im Treppenhaus eines Hochhauses halt. Doch erst durch den | |
| Protest hätten sich die Nachbarn besser kennengelernt. „Wenn jemand nicht | |
| zum Treffen erscheint, dann klingelst du, fragst, was los ist.“ | |
| Mund-zu-Ohr-Propaganda - die bringts. „Das kostet nichts“, erklärt Canan. | |
| „Wer von Kotti & Co hört, weiß Bescheid“, sagt sie stolz. | |
| Unser Gespräch wird von einer Frau unterbrochen, die Canan nach ihrer | |
| Protestschicht fragt. Sie wirft ein Blick in das Dienstbuch, wo sich jeder | |
| einträgt, der eine Schicht übernimmt. Inzwischen ist das Gecekondu nicht | |
| mehr rund um die Uhr besetzt, sondern von acht Uhr morgens bis Mitternacht. | |
| Während also ihre Männer zur Arbeit fahren, sind die Frauen am Kotti | |
| präsent. Canan findet deutliche Worte: „Uns Frauen vor allem ist der Kragen | |
| geplatzt.“ | |
| Jede macht das, was sie am besten kann. Nicht jede kann mit Politikern | |
| verhandeln, aber übernimmt eine Schicht im Zelt. Die Politiker, findet | |
| Canan, müssen endlich nachdenken: „Sie wollen Durchmischung - und wir sind | |
| heterogen.“ Der Protest ist Fatma Canan, wie den meisten, sehr ans Herz | |
| gewachsen. „Er bedeutet für mich, dass ich um mein Recht kämpfen muss. Da | |
| läuft etwas nicht richtig, dagegen wehre ich mich. Für mich, für alle. Denn | |
| ich bin kein Einzelfall, alle sind davon betroffen.“ | |
| Dieses Protestkollektiv ist in der Berliner Landschaft neu. Menschen, vor | |
| allem Frauen, die sich nicht kannten, so scheint, kommen zusammen und haben | |
| sich neu erfunden, um etwas zu verändern. Doch der Protest scheint auch | |
| Aktivistinnen wie Canan zu verändern: Die Frauen verbringen nun mehr Zeit | |
| im Gecekondu als in der eigenen Wohnung. Damit ist es zur Herberge einer | |
| großen Familie geworden. Ob das nun daran liegt, dass Männer seltener zu | |
| Hause sind oder Frauen einfach die besseren Revolutionäre sind, bleibt | |
| offen. | |
| Kotti & Co diskutiert auf dem taz.lab über Ungehorsam und Gentrifizierung. | |
| Weitere Gäste zum Thema „Die gute Stadt“ und das komplette Programm des | |
| tazlab demnächst auf taz.de. | |
| 28 Jan 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| C. Icpinar | |
| G. Bucher | |
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