# taz.de -- Anstand und Stil im tazlab: Voll helles Bewusstsein | |
> Auf dem taz.lab 2012 diskutierte die Philosophin Birgit Recki Haltungen, | |
> Anstand und Stil in der politischen Krise. Dokumentation ihres Vortrags. | |
Bild: Auch politische Gestaltung hat mit Stil zu tun und wirkt so als Türöffn… | |
Es kann nicht ausbleiben, dass die Fragestellung, so wie wir sie im Titel | |
zu dieser Veranstaltung formuliert haben, auch wie eine Fußnote zu der | |
nunmehr zwei Monate zurückliegenden Affäre anmutet, die zum Rücktritt des | |
vorletzten Bundespräsidenten geführt hat. Oder dass sie Assoziationen | |
auslöst an unsere vorletzte Affäre, an die Plagiatsaffäre Guttenberg, die | |
nun schon ein gutes Jahr hinter uns liegt. Inaktuell ist sie aber deshalb | |
auf keinen Fall, nur weil diese Affären jetzt durch ihr – in beiden Fällen | |
viel zu lange hinausgezögertes – Ende schon wieder der Vergangenheit | |
angehören. | |
Ich nutze die Gelegenheit, mit diesem Hinweis schon von Anfang an auf eine | |
unerlssliche Bedingung des guten Lebens aufmerksam zu machen: volle | |
Bewussteinshelle in allen Fragen, die von Belang sind – und zu dieser | |
Bewusstseinshelle gehört die kompetente Erinnerung, gehört auch eine | |
Erinnerungskultur, die uns wenigstens die Chance gibt, aus schon einmal | |
vorgekommenen Fehlern zu lernen; und zwar auf beiden Seiten: auf der Seite | |
derer, die die Subjekte dieser Fehler und auf der Seite derer, die die | |
Adressaten einer Strategie waren, welche sich dann als Fehler erwiesen hat. | |
Ich gehe also davon aus, dass die Probleme, die vor kurzem akut waren, | |
weiterhin aktuell bleiben, auch wenn sie im aktuellen Fall erst einmal | |
gelöst zu sein scheinen. Denn welcher erwachsene Zeitgenosse würde | |
angesichts des Zustandes unserer politischen Kaste und angesichts der | |
Strukturschwäche des politischen Lebens wohl jetzt erwarten, dass es die | |
letzte Krise dieser Art war, die wir zu unseren Lebzeiten erlebt haben | |
werden? Mit anderen Worten: Die nächste Krise dieser Art kommt bestimmt – | |
nach dem Skandal ist vor dem Skandal, und deshalb dürfte es sich durchaus | |
lohnen, im Interesse an den (privaten wie politischen) Bedingungen des | |
guten Lebens (noch) einmal über das Syndrom nachzudenken, das in dieser | |
Situation auffällig geworden ist. | |
Dass in der politischen Auseinandersetzung und Repräsentation, dass | |
namentlich in politischen Krisen eine Herausforderung nicht nur an das | |
sachliche Standing und die demokratische Redlichkeit, die Belastbarkeit und | |
den Einfallsreichtum, also: die Kreativität der Akteure ergeht, sondern | |
gerade auch an ihren Anstand und ihr Stilempfinden, dürfte unmittelbar | |
einleuchten; ebenso, dass wir uns gerade in politischen Krisen Anstand und | |
Stil in besonderem Maße wünschen, damit zu den Sachproblemen nicht auch | |
noch unnötig Porzellan in den menschlichen Beziehungen zerschlagen wird. | |
## Krisen sind Orientierungskrisen | |
Krisen sind, egal worum es in der Sache geht, immer auch | |
Orientierungskrisen, und die haben es an sich, dass eben nicht zu jedem | |
Zeitpunkt feststeht, was und wie viel des Guten zu tun ist. Da dürfte | |
Haltung, anständiger Umgang miteinander, guter Stil das konventionelle und | |
individuell einzulösende Minimalprogramm sein, auf das nicht verzichtet | |
werden darf – ein Medium gewissermaßen, in dem man es mindestens, solange | |
die Orientierungsnot andauert, miteinander aushalten kann. Wie dramatisch | |
die Krise ist, wie tief die Orientierungsnot reicht, wird dann allerdings | |
häufig erst daran erkennbar, dass nicht einmal dieses Minimalprogramm | |
eingelöst wird. | |
Das Ausmaß der Krise fällt den Beteiligten und Betroffenen nicht selten | |
daran auf, dass mit einemmal der bestürzende Eindruck entstehen kann, die | |
Kultur wäre nur eine ganz dünne Schicht Politur, mit der sich die Akteure | |
für kurze Zeit ein bisschen Oberflächenglanz zu verschaffen suchten – und | |
vergeblich. In solchen Situationen kann man dann sogar von erwachsenen | |
Profis Sätze hören, bei denen einem die Ohren abfallen möchten: Ich kann | |
deine Fresse nicht mehr sehen. Solche politischen Akteure haben – wie man | |
in der Weltgegend sagt, aus der ich komme – „nichts zuzusetzen“. Das muss | |
man ins Hochdeutsche ungefähr übersetzen mit: da ist keine menschliche | |
Substanz, auf die man zurückgreifen könnte. | |
Es ist aber sogar die Frage, ob die Problematisierung bis hierhin ausreicht | |
– ob man nicht vielmehr weiter gehen und wahrnehmen muss, dass auch in der | |
Entstehung der politischen Krise häufig bereits ein Mangel an Haltung, an | |
Anstand und an Stil eine Rolle spielt, womöglich sogar ursächlich ist? | |
Hätte sich die Affäre Wulff jemals so hochgeschaukelt, wäre sie jemals | |
ernsthaft zur Krise geworden, wenn ihr Subjekt/Objekt nicht an der | |
entscheidenden Stelle versagt hätte, an der Stelle, als es einen Satz auf | |
die Mailbox eines Chefredakteurs sprach, den jeder kompetente | |
Gesprächspartner als eine Drohgebärde aufgefasst hätte? | |
Auch wenn der Satz: „Wenn der Artikel so erscheint, dann wird das | |
Konsequenzen haben“ nicht im juristisch belastbaren Sinne als Versuch der | |
Behinderung der Pressefreiheit erwiesen ist – er ist ein Lapsus, ein | |
Aussetzen im Konsens des Diskurses, eine unanständige Zumutung allererster | |
Sorte, angesichts derer, so behaupte ich – jeder sich gesagt hätte: `Oho! | |
Da wollen wir doch mal weitersehen ́. | |
## Erwiesene Fehler | |
Und ganz offenbar hat das auch nicht nur der direkte Adressat gedacht, | |
sondern eine Menge Kollegen über die verschiedensten Redaktionswände | |
hinweg, so dass man eigentlich sehr schnell wissen konnte, was bei aller | |
Offenheit im Ausgang der Ermittlungen der eigentliche, vor allen | |
Ermittlungsergebnissen erwiesene Fehler gewesen war – ein Fehler, in dem | |
sich mangelnde Gediegenheit der demokratischen Grundintuition und mangelnde | |
Sicherheit im Stil der verbalen Performance auf das unschönste miteinander | |
paarten. | |
Soviel nur zur Stützung der Option, von der ich hier ausgehe: dass schon im | |
Entstehen von politischen Krisen auch Stilfragen eine Rolle spielen können. | |
Doch das ist nichts alles. Der schlechte Stil, das Sichvergreifen in der | |
Form des Agierens, spielt vor allem im Zentrum des Problems eine Rolle. | |
Wenn ich mich nicht sehr vertue, dann hat die Krise um den verflossenen | |
Bundespräsidenten Wulff mit anderen Skandalen und Affären im politischen | |
Leben dieses Landes eine strukturelle Gemeinsamkeit, und die ist es, die | |
ich gern unter den Stichwörtern Haltung, Anstand, Stil genauer betrachten | |
möchte. | |
Wir alle kennen die nahezu gesetzmäßige Verlaufsform, die der Prozess der | |
Beschuldigung und Exkulpation politischer Akteure regelmäßig nimmt, sobald | |
Zweifel an der Rechtmäßigkeit, Redlichkeit, der Unverfänglichkeit, der | |
unzweifelhaften Distanz zu allem, was korrumpieren und kompromittieren | |
könnte, und dann immer auch an der Transparenz des Agierens aufkommen, | |
sobald also die Ansprüche, unter denen verantwortliche Amtspersonen nun | |
einmal stehen, zu Vorwürfen werden. | |
Diese Verlaufsform ist ausnahmslos immer dieselbe, meines Wissens haben wir | |
(zumindest in der Politik) noch keinen einzigen Fall erlebt, der als | |
Ausnahme namhaft gemacht werden könnte, es scheint sich geradezu um eine | |
jener Eigendynamiken zu handeln, für die wir den Ausdruck „Sachzwang“ | |
reservieren, aber wir haben gute Gründe, die Intuition ernstzunehmen, dass | |
es doch kein Sachzwang sein muss, dass die Eigendynamik, die da vor uns | |
abläuft, eben nicht zwangsläufig ist. | |
## Appell zur Taktik | |
Es gibt Alternativen. Und weil es dann doch wieder einmal so abläuft, wie | |
wir es schon zigmal in vorangegangenen Fällen erlebt haben, geraten so | |
viele Menschen in ihrer Eigenschaft als Bürger inzwischen an den Rand der | |
Verzweiflung oder doch zumindest an die Grenze ihrer Toleranz, und der | |
Ausdruck „Politikverdrossenheit“ ist jedem, der ihn hört, sofort | |
verständlich. | |
Ich spreche davon, dass der Träger von Verantwortung im politischen | |
Prozess, sobald seine Redlichkeit in Zweifel gezogen ist, seinen Ehrgeiz | |
darin sieht, so gut wie möglich aus der Sache herauszukommen, und dieses | |
Programm als Lizenz, womöglich sogar als Appell zu der Taktik begreift, | |
immer soviel und genauso viel zuzugeben und zu erklären, wie ihm im Prozess | |
der Vorwürfe und der Anschuldigungen bereits positiv nachgewiesen werden | |
konnte. Und kein Stück mehr. | |
`Salamitaktik ́ ist die gebräuchliche Metapher für dieses scheibchenweise | |
Abschneiden von Portionen der ganzen Wahrheit, und die Haltung, in der | |
diese Taktik ausgeübt wird, ist gerade nicht die der Wahrhaftigkeit – | |
dieses Vorgehen ist vielmehr genauso wahrheitswidrig wie die absichtsvolle | |
flächendeckende Lüge. Ein entscheidender Anteil an dieser Haltung der | |
Unredlichkeit besteht gerade darin, dass in diesem Verfahren eine Taktik zu | |
sehen ist, die insofern im Unterschied zu einer Strategie steht, als diese | |
dazu taugt, ein ganzes Feld effektiv, da langfristig zu organisieren, | |
während die Taktik nur ein kurzfristiges Manöver darstellt: Doch haben | |
Taktik und Strategie immerhin eine signifikante Gemeinsamkeit – den | |
instrumentalisierenden Umgang mit den Menschen und mit der Wahrheit, auf | |
die die Menschen einen Anspruch haben. | |
## Zeichen der Stunde | |
Was wir uns stattdessen nicht nur wünschen, sondern auch für richtig und | |
sogar für möglich halten, wäre ein taktik- und strategiefreies Agieren: | |
dass die Zeichen der Stunde erkannt und daraufhin die Karten offen auf den | |
Tisch gelegt werden. (Der Ministerpräsident Kretschmann hat in seinem | |
Podiumsgespräch auf dem tazlab m.E. zu Recht darauf insistiert, dass es | |
tendenziell fanatisierend und politikwidrig sei, wenn in der politischen | |
Auseinandersetzung das Unterliegen der Minderheit als Unterdrückung der | |
Wahrheit durch die Mehrheit denunziert wird; mit anderen Worten: die | |
Meinungsbildung und Entscheidung unter dem Mehrheitsprinzip darf nicht | |
unter das Modell von Wahrheit und Lüge subsumiert werden. | |
Dass es im Prozess der politischen Entscheidung in diesem Sinne nicht um | |
Wahrheit, sondern um Interessenvertretung geht, diese Zurückweisung des | |
Wahrheitsanspruchs für die Politik ist übrigens eine der Positionen, die | |
Hannah Arendt in ihrer politischen Theorie vertritt. – Damit ist aber nicht | |
gemeint, dass Wahrheit in der Politik überhaupt keine Rolle spielte. | |
Selbstverständlich gibt es in der Politik eine Ebene – die Ebene, auf der | |
man sich gegenseitig Rede und Antwort steht, und auf der es auch hier einen | |
ebensogroßen Unterschied macht wie im privaten alltäglichen Leben, ob man | |
die Wahrheit sagt oder lügt.) | |
Warum geschieht das nicht, dass Politiker, wenn sie unter Verdacht und | |
Vorwurf geraten, die Zeichen der Stunde erkennen und daraufhin die Karten | |
offen auf den Tisch legen? Warum ziehen die Akteure aus den Schiffbrüchen | |
ihrer Vorgänger nicht diese einfache Lehre, sich im Ernstfall, wenn man | |
schon unter Verdacht und Vorwurf steht, so nicht zu blamieren, wie man sich | |
nur blamieren kann, wenn man sich von der langsamen aber zwangsläufigen | |
Aufdeckung der Wahrheit durch eine misstrauisch und ehrgeizig gewordene | |
kompetente Öffentlichkeit vorführen lässt? | |
Der Grund, warum noch kein in die Krise geratener Politiker gemäß diesem | |
Wunsch des Publikums gehandelt und im Augenblick der Anklage (wegen | |
Vorteilsnahme, wegen Nepotismus, wegen Bestechlichkeit u.ä.) die ganze | |
Wahrheit offenbart hat, scheint zum einen ganz simpel zu sein: Der über | |
institutionellen Einfluss und über Macht verfügende, durch die Dignität des | |
Amtes prominente Akteur traut sich zu, die Fäden auch nach Beginn der Krise | |
zumindest soweit in der Hand zu behalten, dass er das Ausmaß der | |
kompromittierenden Informationen noch ultimativ kontrollieren kann. | |
Das heißt aber nichts anderes als: Er fühlt sich selbst per se dem Rest der | |
Menschheit überlegen, weil er sich für schlauer hält. Und das ist es dann, | |
was sich mit dankenswerter Häufigkeit als Illusion erweist. | |
## Schwerer Denkfehler | |
Abgesehen davon, dass hier ein schwerer Denkfehler liegt oder vielleicht | |
sogar ein Mangel an Intelligen, da es ja gerade nicht besonders schlau, | |
sondern im Gegenteil eine schwere Dummheit ist, sich dieser Illusion der | |
Überlegenheit über den Rest der Welt hinzugeben, das Fatale daran nicht zu | |
durchschauen – abgesehen davon liegt in dieser verkehrten Haltung auch der | |
beklagte Verlust an Anstand und Stil. Es ist eine verkehrte Haltung, den | |
Rest der Menschheit für dümmer zu halten als man selbst es ist; und | |
abgesehen davon, dass es unmoralisch ist, andere Menschen durch taktischen | |
Umgang zu instrumentalisieren, ist es schlechter Stil. | |
Doch das ist nicht das einzige, das man an diesem fatalen Muster: nicht | |
mehr zuzugeben, als die anderen bereits wissen, festhalten muss. Der | |
markanteste Punkt, der an dieser Struktur auffällt, ist doch dieser: Wer so | |
vorgeht, handelt entsprechend den Regeln eines Strafrechtsprozesses. In | |
einem Strafrechtsprozess gilt für die Verteidigung des Angeklagten mit der | |
methodischen und methodisch sehr sinnvollen Unschuldsvermutung auch die | |
Maxime, ihn so gut wie möglich dastehen zu lassen, und das beinhaltet, dass | |
dem Angeklagten nicht zugemutet werden kann, etwas zu sagen oder zu tun, | |
das ihn selbst belastet. | |
Er hat das Recht, nicht mehr zu sagen, als ihm vorgeworfen wird, und er hat | |
das Recht, nicht mehr zuzugeben, als ihm nachgewiesen werden kann. Was wir | |
regeläßig in unseren politischen Skandalen erleben müssen, ist also die | |
keineswegs selbstverständliche Übertragung dieses Modells vom | |
Gerichtsprozess auf den zivilen, unter wechselseitigen moralischen | |
Ansprüchen stehenden Umgang miteinander, wie er in der politischen | |
Öffentlichkeit stattfindet. Darin hat man zunächst einen Kategorienfehler | |
zu erkennen: Die bürgerliche Öffentlichkeit, das politische Leben ist kein | |
Strafrechtsprozess und überhaupt kein Tribunal. | |
Wer in der Öffentlichkeit die Rolle des Angeklagten performiert, | |
verwechselt etwas. Und es ist diese Verwechslung, in der mit dem Problem | |
der Selbstdemontage auch das Problem des Anstands- und Stilverlustes | |
entspringt. So unverzichtbar, wie das Recht als institutioneller Rahmen des | |
politischen Prozesses ist – es wäre dringend erforderlich, dass die | |
politischen Akteure aufhörten, das Modell des Strafrechtsprozesses immer | |
dann zu missbrauchen, wenn sie in die Krise geraten und im Vorfeld | |
verhindern wollen, dass man ihnen den Prozess macht. | |
## Rolle der Urteilskraft | |
Was damit aber in den Horizont der Überlegung kommt, ist die Rolle der | |
Urteilskraft im politischen – und wie man gleich ergänzen darf: übrigens | |
auch im privaten – alltäglichen Leben. Urteilskraft ist das Vermögen, | |
Unterschiede zu machen, der Distinktion und Differenzierung, das | |
intellektuelle wie emotionale Organ der Angemessenheit, der Angemessenheit | |
unserer Reaktion auf die Herausforderungen der Situation. | |
Schon Aristoteles hat die Urteilskraft als die entscheidende Kapazität der | |
praktischen Vernunft begriffen, als die abwägende Klugheit, mit der wir im | |
Handeln das richtige Maß treffen, Kant hat die Urteilskraft sowohl in der | |
Erkenntnis wie im Geschmacksurteil betont, als die Fähigkeit, etwas als das | |
zu erkennen, was es ist, es weder zu überschätzen noch zu unterschätzen, es | |
vor allem nicht in die falsche Schublade einzuordnen; aber auch: auf dieser | |
Basis einer richtigen Zuordnung in reflektierter Weise darauf einzugehen | |
und damit umzugehen. | |
Damit bin ich auch an dem Punkt, an dem die Erinnerung an Hannah Arendt | |
angezeigt ist. Hannah Arendt (1906-1975), die große Dame der politischen | |
Philosophie des 20. Jahrhunderts, geht über ihre beiden großen Vorgänger | |
noch einen entscheidenden Schritt hinaus und sie setzt zudem ihren eigenen | |
Akzent, indem sie – wie wir ihren Studien der 60er Jahre entnehmen – die | |
Politik insgesamt in der Urteilskraft begründet sieht, und daran die | |
Fähigkeit zur anteilnehmenden Reflexion auf die Befindlichkeit und die | |
Interessenlage der Anderen betont. | |
Durch diese Fähigkeit kann die Einstellung auf die Gemeinsamkeit zwischen | |
den Menschen und auf die praktische Solidarität mit den Anderen zum | |
verbindlichen Gedanken und zum belastbaren Element gemeinsamer Praxis | |
werden. Arendt beruft sich nachdrücklich auf Kant, um diesen Grundgedanken | |
ihrer eigenen politischen Theorie zu erläutern: Es gibt tatsächlich bei | |
Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) eine Überlegung, die dazu | |
angetan ist, die Funktion des reflektierenden, die Gemeinsamkeit mit den | |
Anderen herstellenden Urteilens im Zusammenhang des praktischen Handelns zu | |
klären. | |
## Operation der Reflexion | |
Wir versetzen uns in einer „Operation der Reflexion“ an die Stelle jedes | |
anderen, wenn wir herauskriegen wollen, ob unser Handeln allgemein | |
zumutbar, also: gerechtfertigt ist, wir überwinden auf diese Weise das | |
Partikulare unseres eigenen Interessenstandpunktes, indem wir unsere | |
Vernunft gewissermaßen an die der ganzen Menschheit halten. Dass diese | |
„Operation der Reflexion“ Stationen machen muss in den Standpunkten | |
bestimmter anderer Individuen, dass wir m.a.W. nicht ganz und gar abstrakt | |
von unserer eigenen Position den Zugang zur ganzen Menschheit haben, liegt | |
auf der Hand. | |
Aber im Grunde finden wir auf diese Weise heraus, was allgemein verlangt | |
und zugemutet werden kann. Sich an die Stelle jedes Anderen zu versetzen – | |
das trägt einen elementaren Impetus der Anerkennung, es trägt ein | |
egalitäres Ethos des Agierens auf gleicher Augenhöhe und ist insofern auch | |
der Nukleus eines demokratischen Selbstverständnisses, an dem zugleich eine | |
Dimension der Empathie erkennbar wird, dadurch, dass eine solche Reflexion | |
für Arendt nicht anders zu leisten ist als unter Einsatz unserer ganzen | |
Phantasie, mit der wir uns in den Anderen und in seine Lage | |
hineinversetzen. | |
An der Stelle des Anderen denken, das bedeutet die Bereitschaft, eine ganze | |
Staffel der Empathie zu durchlaufen: allem voran die Bereitschaft, sich | |
vorzustellen, dass der Andere dieselben berechtigten Ansprüche auf Wahrung | |
seiner Integrität, seiner Interessen, auf Erfüllung seiner Wünsche hat wie | |
ich selbst; dann aber auch, sich mithilfe der eigenen Phantasie (also | |
anschaulich nund konkret) vorzustellen, wie es ihm zumute ist, wenn er die | |
Folgen meines Handelns zu erleiden hat. | |
Hannah Arendt zweckentfremdet diesen Gedanken Kants im Grunde, wenn sie ihn | |
von vornherein als Grundlegung des Politischen begreift, zumindest spitzt | |
sie ihn auf die politische Praxis zu, während er laut Kant schlechthin | |
alles menschliche Agieren betrifft, also viel allgemeiner gefasst ist. Das | |
hat immerhin der Vorzug der Deutlichkeit, wenn wir uns fragen, worin sie | |
die Grundlage des Politischen sehen will: in der Urteilskraft, im | |
reflektierenden Urteil, in dem wir mitdenken und uns in den Anderen | |
hineinzuversetzen suchen. Nach meiner Auffassung spricht vieles dafür, die | |
so betonte Funktion der Urteilskraft wie Kant nicht ausschließlich für die | |
Politik reservieren zu wollen, sondern sie vielmehr weiter zu fassen, indem | |
man sie auch im alltäglichen privaten Leben wahrnimmt. | |
Es spricht aber gleichwohl vieles für Arendts kritische Diagnose, dass es | |
diese Fähigkeit und Bereitschaft ist, die ausfällt, wo immer politische | |
Akteure den berechtigten kommunikativen Anspruch der Anderen auf Achtung, | |
auf Rechenschaft: auf Transparenz und volle Wahrheit, in seinem elementaren | |
Status missachten, indem sie ihn nach dem Modell des Strafrechtsprozesses | |
mit taktischer Informationsdosierung wie in einem institutionellen | |
Schlagabtausch zwischen Staatsanwalt und Rechtsanwalt abfertigen. | |
Was dann vorliegt, ist ein doppeltes Defizit: Zum einen ist es bereits ein | |
Mangel an reflektierender Urteilskraft, die Anderen für dumm zu halten, | |
anstatt sich an die Stelle jedes Anderen zu versetzen, wodurch man in der | |
Unterstellung gleichrangiger und gleichwertiger Intelligenz immer schon auf | |
einen eigenen Überlegenheitsvorbehalt verzichtet, sondern sich vielmehr auf | |
gleiche Augenhöhe mit ihnen begibt. Zum anderen zeigt sich ein weiteres | |
Defizit an Urteilskraft in der Verwechslung der normativen Charaktere | |
unserer Diskurse: Die Mitbürger und Mitmenschen haben – ceterum censeo – | |
einen ganz anders bemessenen Anspruch auf Wahrheit, als ihn der Ankläger in | |
einem Strafrechtsprozess geltend machen kann. | |
Zum Schluss würde ich gern einen Einwand vorwegnehmen und entkräften, der | |
zwar in dem Maße schon gegenstandslos geworden sein könnte, indem es mir | |
womöglich gelungen ist, mit meinen soeben angestellten Überlegungen etwas | |
deutlich zu machen, der aber nach meiner Erfahrung gerade den kritischen | |
Zeitgenossen nahe liegt. Haltungen, Anstand und Stil – insbesondere die | |
letzte Kategorie: Stil, dürften sich diesem Einwand ausgesetzt sehen: Gibt | |
es für den problembewussten Zeitgenossen nicht etwas Wichtigeres als | |
Stilfragen? | |
Gerade den großen Titel „Das gute Leben – Es gibt Alternativen“ könnte … | |
so verstehen, als ob damit doch drängende Fragen von einiger Größenordnung | |
angegangen werden sollen, drängende Menschheitsfragen in Theorie und | |
Praxis. Nun gilt ebenso für die Probleme der harten Realität wie für die | |
großen philosophischen Menschheitsfragen nach unserer Stellung in Raum und | |
Zeit, nach Ich und Welt, nach Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit (und Kant | |
zufolge: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?) – für | |
alle damit angeschnittenen Probleme, dass sie sich nicht auf Stilfragen | |
zurückführen lassen, sondern schwerer wiegen. | |
## Vom Wesentlichen ablenken | |
Nach diesem Befund könnte es so aussehen, als ob die Beschäftigung mit | |
Stilfragen – ob absichtlich oder ungewollt – geradezu die Funktion hätte, | |
vom Wesentlichen abzulenken. Anders ausgedrückt: Stilprobleme ernstzunehmen | |
wäre ein Form der Ideologie. Einen solchen Einwand muss man nicht erst | |
erfinden, er begegnet einem tatsächlich. Nicht wenige Zeitgenossen dürften | |
ihn einleuchtend finden. | |
Dagegen ist vor allem eines zu sagen: Die Einstellung von Menschen auf die | |
Wirklichkeit und ihre Probleme ist ein „Inklusivpaket“, in dem Begriffe, | |
Gedanken, gedankliche Auseinandersetzung, Konzeptbildung dazugehören. Zur | |
menschlichen Praxis gehört das Denken, auch das Nachdenken; damit aber auch | |
der Abstand, die Reflexionsdistanz, die dazu erforderlich ist, die | |
geschützten, auch institutionell geschützten Räume, in denen das Denken und | |
das Nachdenken als Methode kultiviert wird. Mit der Anerkennung der | |
Notwendigkeit dieses Distanzmediums der Reflexion ist man aber immer schon | |
auch in Distanz zu den Problemen der harten Realität. | |
Der Dogmatismus des Sichverpflichtens auf die harte Realität und die | |
Bewältigung ihrer Probleme ist von daher nur um den Preis der Schizophrenie | |
(man kann auch deutlicher sagen: der Verlogenheit), nämlich um den Preis | |
des Ausblendens von elementaren Tatsachen zu haben, die schlichtweg | |
dazugehören, die nicht per Dekret ausgeschaltet werden können. Wenn man | |
versuchen würde, ihn ernsthaft zu vertreten, dann müsste man nicht erst bei | |
Stilfragen und Anstandsfragen den Ideologieverdacht (oder Luxusverdacht) | |
geltend machen, sondern auch schon in den Fragen, die ich gerade als die | |
großen philosophischen Menschheitsfragen angeführt habe, und konsequent | |
auch schon gegenüber allen Veranstaltungen, mit denen man sich überhaupt | |
die Zeit nimmt, gründlich methodisch und das heißt immer auch: mit Abstand | |
von den realen Problemen und in geschützten Räumen über diese nachzudenken. | |
Wenn der Einwand gegen das Ernstnehmen von Stilfragen somit durch den | |
Hinweis entkräftet werden kann, dass er sich per se nicht konsequent | |
aufrechterhalten lässt, dass er m.a.W. inkonsistent ist, dann heißt das | |
aber nicht, dass man auch schon ein Argument hätte, sich mit Fragen von | |
Stil und Anstand auseinanderzusetzen; keinen Einwand gegen etwas zu haben – | |
daraus folgt schlichtweg nicht, auch schon einen guten Grund dafür zu | |
haben. Deshalb bleibt immer noch die Frage: Weshalb sollen wir uns damit | |
befassen, und nicht lieber mit etwas anderem? | |
## Beschädigung der Lebensperspektive | |
Wenn der Hinweis auf die Instrumentalisierung der Öffentlichkeit soeben | |
noch nicht drastisch klar gemacht hat, welche Verfälschung, ja: | |
Beschädigung unserer Lebensperspektiven auch in dem schlechten Stil | |
politischer Akteure auf dem Spiel steht, dann muss man eigens auf den | |
Horizont hinweisen, in dem er steht. Es gibt allerdings eine große | |
Menschheitsfrage, bei der man durchaus ins Nachdenken kommen und finden | |
kann, dass sie auch das Ernstnehmen von Stilfragen mit abdeckt. Das ist das | |
Glück der Menschen, auf das die Idee des guten Lebens immer auch | |
hinauslaufen soll. | |
Im Begriff des guten Lebens, in dem der Anspruch auf Selbstbestimmung | |
artikuliert ist, auf Handeln nach eigener Einsicht, auf einen Lebensplan, | |
in dem man zu sich selber und zu seinen Verhältnissen stehen und sie | |
bejahen kann, geht es um das menschliche Glück. Damit ist „das gute Leben“ | |
ein Begriff, der aufs Ganze geht und den ganzen Menschen erfasst. Dazu | |
gehören nicht nur ethische und politische Bewertungen. | |
Der Anspruch auf ein gutes Leben schließt immer auch die ästhetischen | |
Qualitäten der Welt und des Lebens und des eigenen Agierens mit ein, ja er | |
läuft zwangsläufig auf einen Gestaltungsanspruch hinaus, der nicht nur | |
einzelne stationäre Probleme betrifft, sondern sich auf das Ganze der | |
Lebensführung und den ganzen Menschen erstreckt. Ihn einzulösen, beinhaltet | |
immer auch das Achten auf die angemessene Form seiner Realisierung. Das | |
heißt: Das gute Leben hat auch eine ästhetische (und damit übrigens immer | |
auch eine technisch-pragmatische) Dimension! | |
Denn Gestaltung hat es immer auch mit Formfragen zu tun, und auf diese | |
Weise deutet sich vielleicht an, dass und wie der Begriff des Stils als | |
Exponent eines wie sehr auch immer individuell geprägten Anspruchs auf | |
angemessene Form mit dazu gehört, wenn es um das gute Leben geht. Wenn man | |
im Einzelnen erläutern soll, was denn ein Leben wäre, dann wird man immer | |
auch ein schönes Leben im Sinn haben. Stil darf insofern als Kategorie des | |
Überganges zwischen ästhetischer und ethischer Bewertung gelten. | |
17 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Birgit Recki | |
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