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# taz.de -- Katja Kipping beim taz.lab: „Es braucht Erfindungsgeist“
> Statt drei Wochen lieber drei Monate Zeit für Urlaub verplanen? Katja
> Kipping, Linkspartei-Vorsitzende, im Gespräch über ihr persönliches
> Zeitmanagement.
Bild: Politisches Engagement macht Sinn, meint Katja Kipping
taz.lab: „Erfindet!“ heißt das Motte des diesjährigen taz.lab. Frau
Kipping, was hat Sie zuletzt dermaßen genervt, dass Sie spontan umgedacht
haben?
Katja Kipping: Wirklich herausfordernd empfand ich meine Situation, nachdem
ich vorigen Sommer Parteivorsitzende geworden war, obwohl meine Tochter
erst wenige Monate alt war. Bei der Beantwortung der Frage, wie das zu
vereinbaren ist, lauern jeweils zwei Fallen: Entweder vernachlässigst du
deinen Job - oder dein Kind. Das alte Spiel halt: Rabenmutter oder
Drückebergerin auf Arbeit. Aber ich bin überzeugte Anhängerin der
Vier-in-einem-Perspektive, und deshalb habe ich mich dem offensiv gestellt.
Der, bitte was, Perspektive?
Das ist eine feministisch-marxistische Herleitung von Frigga Haug. Sie geht
davon aus, dass es im Leben von Männern und Frauen vier gleichberechtigte
Tätigkeitsbereiche gibt, die eine gleich starke Rolle spielen sollen.
Erwerbs-, Familienarbeit, politische Einmischung und produktive Muße. Man
muss sich das nicht schematisch vorstellen, aber die Grundidee ist, zu
sagen: In einer klassischen Arbeitswoche muss für alles gleichermaßen Raum
sein.
Und das haben Sie nach der Geburt Ihres Kindes beschlossen?
Das kann man natürlich nicht allein entscheiden. Wenn in einer Gesellschaft
die Siebzigstundenwoche zum guten Ton gehört, ist das schwierig. Du kannst
nicht einfach auf zwanzig Stunden gehen. Aber das wäre für mich die ideale
Form, mein Leben zu führen. Auch politisch finde ich diese Idee gut. Eine
Gesellschaft, in der das Standard wäre, finde ich wirklich erstrebenswert.
Was heißt das nun konkret?
Strikte Planung. Auch als Frau in einer Spitzenposition möchte ich an einem
klassischen Arbeitstag nach 16 Uhr keine Termine mehr annehmen müssen. Wenn
doch, dann ist das eine Ausnahme und extrem begründungspflichtig.
Wann war zuletzt etwas extrem begründungspflichtig?
Vor der Niedersachsenwahl. Politik unterliegt ja einem unmittelbaren Zeit-
und Handlungsdruck. Trotzdem macht mich dieses Modell nach wie vor
glücklich, weil ich das Gefühl habe, dass mein Kampf für Freiräume auch
eine politische Dimension hat. Das ist nicht Egoismus, sondern das Kämpfen
für Modernität, das Setzen neuer kultureller Standards.
Sie sind überraschend Parteivorsitzende geworden. Zuvor hatten Sie mehrfach
betont, nicht zur Verfügung zu stehen. Wovon mussten Sie sich
verabschieden?
Als Vorsitzende musste ich mich nicht komplett neu erfinden, aber einiges
verschiebt sich. Du weißt viel mehr Sachen, du kennst interne Probleme
besser. Und weil du ab sofort die Partei als Ganzes im Blick haben musst,
kannst du vieles nicht mehr einfach erzählen. Auch nicht gegenüber
politischen Freunden. Und als Vorsitzende muss man noch mehr Entscheidungen
treffen.
War das vorher schwerer?
Es ist eine bequemere Position, Entscheidungen anderer zu kritisieren. Marx
hat mal gesagt: "Menschen machen ihre Geschichte aus freien Stücken, aber
nicht unter frei gewählten Umständen." So ist es auch für mich: ich mache
das aus freien Stücken, aber nicht unter frei gewählten Umständen. Man kann
nicht immer ganz frei das Eigene durchsetzen. Ich gebe jetzt Sachen meine
Handschrift, ohne in sie hundert Prozent Katja Kipping reinschreiben zu
können. Es braucht Erfindungsgeist.
Schon mal gedacht, wie schön das Leben sein könnte ohne diesen ganzen
Apparat?
Nein, so nicht. Für mich gehört politisches Engagement zum guten,
sinnerfüllten Leben dazu. Was mir manchmal fehlt, ist mehr
Zeitsouveränität. Ich habe gerade meinen Urlaub geplant. Da stelle ich mir
schon die Frage: Wäre es nicht schöner, statt drei Wochen drei Monate Zeit
zu haben?
Viele Ihrer Mitglieder sind im Rentenalter. Wie bringen Sie diese dazu, das
Neuerfinden der Linken nicht nur zu akzeptieren, sondern es gegebenenfalls
sogar zu befördern?
Meiner Erfahrung nach klappt das gut, wenn man auch an deren Erfahrungen
anknüpft. Ich hatte etwa die Idee eines Elternbonus: Eltern sollten jeden
zweiten Monat einen zusätzlichen freien Tag bekommen, für Behördengänge,
Arzttermine und derlei.
... in der DDR hieß das Haushaltstag.
Genau. So habe ich den Genossen das erklärt. Aber damals gab es diesen nur
für Frauen, jetzt gäbe es ihn auch für Männer. Das greifen sie gerne auf.
Gesellschaftliche Utopien, linke zumal, können in ihrer Absolutheit auch
etwas Tyrannisches haben. Richtig?
Das Entscheidende ist, dass man bei allen Utopien eine Sache klar vor Augen
hat: Der Weg dorthin darf nicht durch ein Tal der Tränen führen. Jedes
Transformationsprojekt, das die Linke entwickelt, muss das Leben im Hier
und Heute verbessern. Das Grundeinkommen ist solch eine Idee. Da ist die
Sache glasklar: Die Menschen wären befreit von Existenzängsten, sie hätten
ein höheres Maß an Entscheidungsfreiheit, und es könnte die Gesellschaft
grundlegend verändern, wenn es verbunden wird mit der Frage, wie und was
wir produzieren wollen.
Wie realistisch ist diese Idee?
Wenn man sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anschaut, ist das sehr
unrealistisch. Nicht mal eine Weihnachtsbeihilfe für die Ärmsten geht dort
durch. Aber warum sollte sich in einer Demokratie so was nicht durchsetzen?
Das setzt natürlich voraus, dass man sich frei macht von dem Denken, nach
dem der menschliche Wert nur über Erwerbsarbeit definiert wird.
KATJA KIPPING auf dem taz.lab am 20. April - im Gespräch u. a. mit Hanna
Gersmann, Ressortleiterin Inland der taz
12 Feb 2013
## AUTOREN
Anja Maier
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