# taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Weg vom Milieu, weg vom Klischee | |
> Julia Seedler und Andreas Umpfenbach haben fünf Doku-Kurzfilme über den | |
> Schillerkiez gemacht. Es geht um Helden, die sich beharrlich für ihr | |
> Viertel engagieren. | |
Bild: Jetzt im Film verewigt: der Schillerkiez. | |
Die Kneipe, die sich die beiden Filmemacher Julia Seedler und Andreas | |
Umpfenbach für das Gespräch ausgesucht haben, gibt es schon lang hier im | |
Schillerkiez. Es gab sie vor 2010, als das Tempelhofer Feld eröffnet wurde | |
und immer mehr Kneipen und Cafés der anderen Art ins Viertel schwappten. | |
Und es gab sie auch schon, als der Spiegel Neukölln 2004 zum Problembezirk | |
kürte und Heinz Buschkowsky begann, sich durch die Talkshows zu quatschen. | |
Im Schiller’s kostet der Kaffee noch immer 1,20, das kleine Bier 1,50. Es | |
gibt lackierte Paneele und einen Flachbildschirmfernseher. Der Kneipenhund, | |
ein großer Schäferhundmischling, liegt im Fenster, direkt neben dem Schild, | |
das verkündet, Hunde seien an der Leine zu führen. An der Bar berlinert die | |
Stammkundschaft, drei untersetzte Männer mittleren Alters, zwei davon in | |
Cordhosen und Flanellhemden, die sich gerade eine Runde Weinbrand bestellt | |
haben. | |
Julia Seedler, eine Frau mit wachen, netten Augen, schaut sich schmunzelnd | |
um und erklärt, warum sie die Kneipe mag. Hier trafen die Filmemacher zum | |
ersten Mal Beate Storni. Und Beate Storni ist eine der eindrucksvollsten | |
Figuren in „Home Sweet Home“, den Kurzfilmen über den Schillerkiez, die | |
Julia Seedler, Andreas Umpfenbach und drei weitere Filmemacher produziert | |
haben und die ab heute im Schillerpalais zu sehen sind. Wie alle Befragten | |
in „Home Sweet Home“ sitzt auch Beate Storni im Film vor einem schwarzen | |
Tuch. Die langen rot gefärbten Haare mit dem grauen Ansatz, in die sie | |
elegant ihre Brille geschoben hat. Ihr Gesicht, das gleichzeitig hart wirkt | |
und doch mädchenhaft fragil. Ihre Gesten, mit denen sie ihrer Rede | |
selbstbewusst Nachdruck verleiht. Der große gelbe Kaffeepott in der Hand: | |
All das ist sorgfältig ausgeleuchtet. | |
Beate Storni, die Quartiersrätin, die seit 1955 im Kiez lebt, bringt den | |
Schillerkiez und seine Probleme ebenso lässig wie plastisch auf dem Punkt. | |
Sie sagt: „Bei einigen Häusern sind die Mieten bei 14 bis 17 Euro | |
angekommen. Das ist natürlich für den durchschnittlichen Neuköllner mit | |
seinem kleinen Einkommen überhaupt nicht zu bewältigen.“ Nach einer kurzen | |
Atempause fügt sie an: „Ich weiß nicht, wo die ganzen armen Leute | |
hinsollen. Vielleicht mit ’nem Pappkarton nach Brandenburg oder so? So nach | |
dem Motto: Berlin ist schön, nur die Berliner stören. Vor allem die armen.“ | |
## Glamouröse Auftritte | |
Der glamouröse Auftritt Beate Stornis ist sehr bezeichnend für die | |
Kurzfilme „Home Sweet Home“, denn Julia Seedler und Andras Umpfenbach sind | |
jene Fernsehreportagen zuwider, die seit einem Jahrzehnt über Neukölln | |
ausgestrahlt werden, die sich den sogenannten kleinen Leuten an die Fersen | |
heften. Die versuchen, möglichst authentisch ihrem schäbigen Alltag zu | |
folgen. Und dabei gern in Elendsvoyeurismus kippen. | |
Um dies zu vermeiden, haben sich Julia Seedler und Andreas Umpfenbach Leute | |
ausgesucht, die sich sozial engagieren, die eigene Situation und die ihres | |
Kiezes reflektieren – Leute aus fünf sozialen Einrichtungen im | |
Schillerkiez, denen jeweils einer der fünf Kurzfilme zugeordnet ist. Keiner | |
der Protagonisten in diesem Film hat also wirklich den Kopf unter Wasser | |
oder den Überblick verloren – sind also in der Situation sehr vieler | |
Menschen in dieser Armeleutegegend. „Man kennt das ja selbst“, sagt Andreas | |
Umpfenbach, ein sympathischer Typ mit Zauselfrisur und Dreitagebart, und | |
erzählt dann verschmitzt von jenen Tagen, an denen Post vom Finanzamt | |
kommt, an denen keine vernünftigen Gedanken mehr möglich sind und an denen | |
man ja auch nicht wirklich vor der Kamera stehen wollte. | |
Die Existenzangst, die die Würde und das klare Denken der Leute zerfrisst – | |
das ist Andreas Umpfenbachs Thema nicht. Darum, erklärt er, sitzen alle | |
Interviewpartner dieses Films vor dem schwarzen Tuch, sie sprechen direkt | |
in die Kamera. Meist ist bei allen der Moment der tollste, wenn sie acht | |
oder neun Sekunden einfach nur, und ohne etwas zu sagen, in die Kamera | |
schauen, während ihr Name eingeblendet wird. Acht, neun Sekunden sind eine | |
lange Zeit, um darüber nachzudenken, wie man im Film wirkt. Wie man wirken | |
will. Und wer man ist. | |
„Wir wollten durch die Personen das Viertel erzählen, weg vom Milieu, weg | |
vom Klischee“, sagt Julia Seedler, die selbst 2009 bis 2012 hier lebte, | |
sich zu Hause fühlte, aber trotzdem nicht im Schillerkiez bleiben konnte, | |
weil die Mieten unbezahlbar wurden. Die Frage nach der Heimat ist ein | |
weiterer roter Faden von „Home Sweet Home“ – ein „aufgeladener Begriff�… | |
wie Julia Seedler meint. Und doch: Alle Befragten von „Home Sweet Home“, | |
egal, wie alt sie sind und wie lange sie in diesem Kiez leben, fühlen sich | |
zu Hause hier. | |
Ihre Heimat hat nichts mit ihrer Herkunft zu tun. Da ist Beate Storni, die | |
Alteingesessene. Da ist Quartiersrätin Melissa Opitz mit dem irgendwie | |
britischen Akzent, die Zugezogene, die erst seit 2010 im Kiez wohnt. Da ist | |
aber auch Talu Emre Tüntas, Vorstand der Taschengeldfirma e. V., eines | |
ziemlich lebendigen Vereins, der Kinder und junge Menschen mit Sprach-, | |
Spiel-, und Sportprogrammen fördert und aus dem bereits eine Band | |
hervorgegangen ist, in der Tüntas singt und deren Proben „Home Sweet Home“ | |
in einer der wenigen reportagehaften Sequenzen des Projekts beobachtet. | |
Tüntas fühlt sich hier zu Hause, ohne mit dem Wort Integration im Sinne von | |
Anpassung etwas anfangen zu können. Er sagt, dass es seiner Meinung nach | |
nicht „die eine Gesellschaft in der Mitte“ gibt, sondern viele Subkulturen, | |
die das Ganze zusammenhalten – und dass er gar nicht weiß, wo er sich denn | |
nun integrieren soll. | |
## Heimat ist nicht Herkunft | |
Woher Opitz, Tüntas und all die anderen „ursprünglich“ oder „eigentlich… | |
kamen, diese sehr deutsche und oft so hilflose Frage beantwortet „Home | |
Sweet Home“ übrigens vorsätzlich nicht – und auch hierbei hilft der | |
neutrale Boden, der alle Helden dieses Films in der gleichen strengen Form, | |
auf Augenhöhe, vor dem gleichen schwarzen Tuch und mit dem gleichen Licht | |
behandelt. | |
„Wir wollten die Frage, wem der Schillerkiez gehört, aufwerfen, aber nicht | |
beantworten“, sagt Julia Seedler. Denn natürlich gehört der Kiez jedem, der | |
hier leben will. Viel eher geht es darum: Eine neue | |
Stadtentwicklungspolitik muss her, die dies ermöglicht. | |
In diesem Sinne ist „Home Sweet Home“, das unter anderem vom Fonds | |
Soziokultur und dem Kulturamt Neukölln gefördert wurde, auch noch weit mehr | |
als ein Filmprojekt. Es wird dazu beitragen, dass sich die Initiativen im | |
Kiez vernetzen. Dessen ist man sich nach Ansicht der Filme sicher: Ihre | |
beharrlichen Helden werden der Entwicklung, wie sie in anderen Kiezen | |
längst vollzogen ist, mehr entgegensetzen. | |
8 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
Susanne Messmer | |
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