# taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Pizzen verdrängen Policen I | |
> In der Herrfurthstraße 8 hat Orhan Daldeniz viele Jahre Versicherungen | |
> verkauft. Doch die Miete wurde zu teuer. Nun bietet Antonio Vigner dort | |
> Pizzen an. Die taz hat beide getroffen. | |
Bild: Neues verdrängt das Alte: Straßenrand im Schillerkiez. | |
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Zwei Minuten braucht Antonio Vigneri von seiner Wohnung in der Weisestraße | |
zur Arbeit. Einmal um die Ecke, eingebogen in die Herrfurthstraße, bis zur | |
Nummer 8 – da. An diesem Morgen macht sich der 23-Jährige – grauer | |
Kapuzenpullover, tätowierte Arme, die Haare gegelt –nach dem Aufschließen | |
erst mal einen Espresso. Er rückt einen Hocker an einen der hohen Tische, | |
an denen man auch stehen könnte, und streicht sich übers Gesicht: „Bisschen | |
spät geworden gestern.“ Vigneris Onkel Carmelo kommt in den Laden, bestens | |
gelaunt. „Buongiorno! Was für ein Wetter.“ Wenig später tritt auch Vigner… | |
Mutter durch die Tür. | |
„Ich bin hier im Schillerkiez aufgewachsen. Meine Mutter ist mit mir nach | |
Berlin gekommen, da war ich ein Jahr alt. Schon meine Oma hat in Berlin | |
gearbeitet, in einer Zementfabrik in Rudow, als Gastarbeiterin in den | |
sechziger Jahren. Die Weisestraße war richtig runtergekommen: Da gab es | |
nichts, nur ein paar Kneipen. Wir sind dann immer mit den anderen Kindern | |
auf den Spielplatz an der Schillerpromenade oder in die Hasenheide. Dass | |
ich hier mal arbeiten würde, hätte ich nie gedacht. Aber dass ich Pizza | |
mache, ist doch klar, wir sind Sizilianer. Nein, im Ernst, ich habe | |
Hotelfachmann gelernt, aber das war nichts. Das Konzept für die Pizza – 2 | |
Euro das Stück, aber mit frischem Gemüse und unserem Teig, der am Rand | |
richtig knusprig wird – war schon länger in der Schublade. Ich habe lange | |
geguckt, erst in Kreuzberg, Prenzlauer Berg, aber dort gibt es ja nichts | |
Originelles mehr. Und dann war plötzlich der Laden hier frei. Ich hab | |
gleich angerufen und von unserem Konzept erzählt. Die Hausverwaltung | |
meinte, das ist genau das, was sie suchen. Eine Woche später hatte ich die | |
Schlüssel.“ | |
Vigneris Laden ist nicht allzu groß: vier Tische mit Teelichtern und einer | |
Tulpenblüte in einem kleinen Glas. Er steht jetzt hinterm Tresen, erklärt | |
den Gästen freundlich die Pizzen vor ihm in der Auslage: | |
Kochschinken-Camembert, Broccoli-Formaggi. Hinter dem zweiten Tresen steht | |
seine Mutter, verkauft belegte Ciabatta und Kaffee. Die Wände sind trendig | |
unverputzt, leise läuft R ’n’ B. Nichts erinnert mehr an das alte | |
Versicherungsbüro. | |
„Bei der Miete musste ich schon schlucken. Ob Neukölln oder Charlottenburg, | |
hat die Hausverwaltung gesagt, macht keinen Unterschied mehr. In zehn | |
Jahren soll die Herrfurthstraße ja eine der teuersten in Neukölln sein. | |
Naürlich habe ich immer wieder überlegt, ob das funktioniert, auch | |
finanziell. Aber jetzt heißt es: 100 Prozent geben.“ | |
Die Herrfurthstraße führt von der Hermannstraße direkt zum Tempelhofer | |
Feld. Seit das Feld 2010 zur öffentlichen Wiese wurde, hat sich die Straße | |
zur Kiezpromenade gemausert. Zwei Cafés haben seitdem eröffnet, eine | |
Galerie, ein Feinkostladen, eine Bar, ein Burgerladen, eine Bäckerei. Und | |
Anfang Januar Vigneris Pizzeria. | |
„Wir haben alles selbst gemacht: Wände rausreißen, Schaufenster größer, | |
Dielen neu. Meine ganze Familie hat mir geholfen, zum Glück. Ich mache den | |
Laden mit meinem Patenonkel Carmelo, er ist meine Vertrauensperson, er | |
sorgt immer für gute Laune. Und er ist einer der besten Köche! Einige | |
fragen, ob wir was mit dem Café nebenan zu tun habe. Haben wir nicht. Aber | |
als ich gesehen habe, dass jemand dem Café die Scheiben eingeworfen hat, da | |
haben wir lieber auf eine große Eröffnung verzichtet. So ein Aufriss ist eh | |
nicht meine Art. Einfach gutes Essen machen.“ | |
Vigneris Familie erfüllt alle Italien-Klischees: Der Vater ist Eiskonditor, | |
Onkel Carmelo früher auch, Neffe Antonio macht Pizza. Ab März soll es auch | |
Eis im Laden geben. | |
„Zu uns kommen vor allem Studenten, auch italienische. Ich bin immer noch | |
ganz verwundert, wo die alle herkommen. Den Mann von der Allianz, der | |
vorher hier drin war, habe ich nicht mehr kennengelernt. Die vielen neuen | |
Läden in der Nachbarschaft sind doch schön: Jetzt müssen die Leute hier | |
nicht immer weit fahren, sondern haben direkt was vor der Tür. Und die | |
Mieten steigen so oder so. Was willst du da machen? Trotzdem ist es | |
finanziell hart. Erst mal immer vorschießen. Oh Mann, ich hoffe, das | |
funktioniert alles. Die letzten Wochen habe ich quasi im Laden gelebt. | |
Morgens rein, Mitternacht raus. Aber der Laden ist mein Herz. Viele, die zu | |
uns kommen, sagen: So was hat hier noch gefehlt – keine Billigpizza, | |
sondern original italienisch. Mein Traum ist, dass das hier ein richtiger | |
Treffpunkt für den Kiez wird.“ | |
Orhan Daldeniz bittet aufs schwarze Sofa im Hinterzimmer seines Büros. Ecke | |
Gneisenaustraße/Mehringdamm, im Hinterhof, aber mit großem blauen | |
„Allianz“-Schild vorn an der Straße. Daldeniz stellt türkischen Tee auf d… | |
kniehohen Tisch, lässt sich in einen Sessel fallen. Er trägt Strickjacke, | |
Jeans, den Bart gestutzt. „Ich sehe vielleicht nicht aus wie ein | |
Vertreter“, entschuldigt sich der 36-Jährige lächelnd, „aber so fühle ich | |
mich wohl.“ Neben dem Sofa stapeln sich Kartons. Unausgepacktes aus der | |
Herrfurthstraße, aus Daldeniz’ altem Büro. | |
„Letzten Juni lief mein Mietvertrag in der Herrfurthstraße aus. Als das | |
neue Angebot kam, dachte ich, das sei ein Witz: 860 Euro. Vorher hatte ich | |
524 Euro gezahlt, ganz am Anfang 476 Euro. Ich habe bei der neuen | |
Hausverwaltung angerufen, habe gefragt, wie ich als Versicherungsbüro | |
meinen Umsatz für so eine Miete steigern soll? Da haben sie gesagt, ich | |
könnte ja Gastronomie machen. Dann allerdings wäre die Miete 1.150 Euro. | |
Aber ich bin Versicherer! Und so viel Geld für die Herrfurthstraße, eine | |
B-Lage, höchstens. Das war mir zu blöd. Ich hatte den Laden 2007 | |
angemietet, da war überhaupt nichts los. Vorm Laden haben sich oft Trinker | |
getroffen, da wurde es manchmal so laut, dass ich gar nicht mehr arbeiten | |
konnte. Aber ich mochte die Atmosphäre in der Straße. Wenn die Sonne | |
schien, habe ich oft abgeschlossen und mich rausgesetzt.“ | |
Daldeniz’ altes Büro in der Herrfurthstraße war schlicht: Zwei kleine | |
Räume, Schreibtisch, weiße Wände. Besucher kamen auch mal nur auf einen | |
Tee. „Gott und die Welt“ würden ihn kennen, sagt Daldeniz. In Kreuzberg ist | |
er Vorsitzender des Fußballvereins Türkspor. Er kann zuhören, antwortet | |
ruhig, höflich. Auch über die Geschichte mit der Mieterhöhung kann er heute | |
lachen. | |
„Dann kam der Burgerladen, direkt nebenan. Ich dachte, was soll das denn? | |
Vielleicht läuft so was an der Hermannstraße, aber hier? Aber die Leute | |
kamen in Strömen, wie am Boxi. Wahnsinn. Ich bin ja morgens immer direkt in | |
mein Büro, aber da habe ich mal den Laden abgeschlossen und eine Runde | |
gemacht. Und wirklich: Die leeren Läden waren alle wieder belegt.“ | |
Daldeniz ist seit 14 Jahren bei der Allianz, versichert Imbisse und | |
Bäckereien, die kleinen Leute. Er hat eine Devise: Verkaufe nur, was du | |
selbst kaufen würdest. Boni, sagt er, seien ihm egal. Er mag seinen Job. | |
„Traurig war ich eigentlich nicht, dass ich gehe musste. Eigentlich wollte | |
ich schon immer in den Bergmannkiez. Da bin ich geboren, da wohne ich, da | |
fühle ich mich wohl. Das neue Büro in der Gneisenaustraße habe ich über | |
einen Kumpel. Es ist billiger als die Neumiete im Schillerkiez: 600 Euro | |
warm. Obwohl ich hier 30 Quadratmeter mehr habe und die Lage viel zentraler | |
ist.“ | |
Auch Daldeniz’ neues Büro ist zweigeteilt, mit kleiner Treppe zum | |
Hinterraum. Auch in die Gneisenaustraße kommt heute Tee-Besuch: Daldeniz’ | |
Bruder. Der Vater zweier Kinder ist ein Familienmensch. Seine Frau arbeitet | |
im Büro, seine Eltern wohnen gleich nebenan. | |
„Ich habe schon gemerkt, dass sich im Schillerkiez was ändert: Mein | |
Kundenstamm wurde immer bunter, auch ausländische Studenten kamen vorbei: | |
Italiener, Engländer, Franzosen. Die wollten dann Hausratsversicherungen | |
oder Haftpflicht. Die WGs ziehen aber natürlich auch die Mieten nach oben. | |
Ich habe den Eindruck, dass das systematisch hochgepusht wird. Leider gehen | |
aber auch meine Landsleute in Läden, bei denen ich denke: Ist das noch | |
normal, zu Mieten von 4.000, 5.000 Euro einfach okay zu sagen? Ich finde, | |
davon sollte man Abstand nehmen und dem Vermieter mal zeigen: So weit könnt | |
ihr nicht gehen. | |
In der Herrfurthstraße zogen die Neuen in Leerstand, andere lösten die | |
Alten ab. Die Kneipe „Engels“ ging ins alte Keglerheim und die Schillerbar | |
in eine türkische Bäckerei. Andere aus der Zeit vor der Öffnung des Feldes | |
sind noch da: der Handyshop, die Eckkneipe Herrfurtheck. In Daldeniz’ Büro | |
gibt es jetzt Pizza. | |
„Die türkische Bäckerei gleich an der Ecke hat noch bis zum Schluss | |
investiert und ihren Laden umgebaut. Eines Tages war sie dann zu. Warum, | |
weiß ich nicht, freiwillig bestimmt nicht. Dass bei dem Nachfolger, der | |
Bar, die Scheiben eingeschlagen wurden, fand ich aber daneben. Auch die | |
Neuen haben sich ja viel Mühe gegeben. Ich war neugierig und habe mal | |
geguckt, wer meinen alten Laden angemietet hat. Sieht von außen schick aus. | |
Pizza also – das passt ja zu der Gastronomie-Idee der Hausverwaltung. Im | |
Schillerkiez bin ich sonst nur noch, wenn ich mit meiner Familie in die | |
Sehitlik-Moschee gehe oder aufs Tempelhofer Feld.“ | |
15 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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