# taz.de -- Krise in Tunesien: Die Regierung zerfällt | |
> Nach Protesten der Opposition können die Islamisten in Tunesien nur | |
> einige tausend Anhänger mobilisieren. Die Präsidentenpartei verlässt die | |
> Koalition. | |
Bild: Anhänger von Ennahda am Samstag in Tunis. | |
MADRID taz | Tunesiens Islamisten versuchen verzweifelt, die politische | |
Initiative zurückzugewinnen. Nachdem am Freitag anlässlich der Beisetzung | |
des ermordeten säkularen Oppositionspolitikers Chokri Belaïd im ganzen Land | |
nach offiziellen tunesischen Angaben 1,4 Millionen der insgesamt 11 | |
Millionen Tunesier auf die Straße gingen, waren am Samstag die Islamisten | |
an der Reihe. | |
Die Jugend der regierenden Ennahda demonstrierte am Nachmittag auf der | |
Avenue Bourguiba im Herzen der Hauptstadt Tunis. Es kamen – je nach Quellen | |
– gerade einmal 3.000 bis 6.000, viele von ihnen radikale Salafisten mit | |
ihren schwarzen Fahnen. Sie unterstützten lautstark die von Ennahda | |
geführte Regierung. | |
Diese kommt seit dem Mord an Belaïd immer stärker unter Druck. Denn die | |
Opposition vermutet die Attentäter im Umfeld der Ennahda-nahen Milizen der | |
„Liga zum Schutz der Revolution“. Sie wirft der Regierung Untätigkeit | |
gegenüber gewaltbereiten Islamisten vor und fordert den Rücktritt der | |
Regierung. | |
Die Demonstranten, viele mit Knüppeln bewaffnet, suchten die Schuldigen für | |
die Kritik an ihrer Regierung dort, wo sie in Nordafrika immer gesucht | |
wird, wenn es darum geht, unbequeme Antworten schuldig zu bleiben: Bei der | |
ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. „Tunesien ist nicht Mali“ und | |
„Frankreich hau ab“ lauteten die Rufe. | |
Es war die wütende Antwort auf Erklärungen des französischen Innenministers | |
Manuel Valls. Er sprach in einem Radio-Interview von „islamistischem | |
Faschismus“ und wünschte sich ausdrücklich „den Sieg der demokratischen, | |
säkularen Kräfte, die die Hoffnung der Jasmin-Revolution tragen, bei den | |
nächsten Wahlen“. | |
## Islamistische Partei Ennahda hat viele Probleme | |
Die schwache Beteiligung und das radikale Auftreten der | |
Ennahda-Demonstranten zeugen von einer tiefen Krise innerhalb der | |
islamistischen Partei. Der Regierungschef und Ennahda-Generalsekretär | |
Hamadi Jebali versucht seit Tagen, die Stimmung zu beruhigen. | |
Er will der Opposition entgegenkommen und eine neue Regierung aus | |
„unpolitischen Experten“ bilden. Er will bis Mitte der Woche eine | |
Ministerliste vorlegen. „Wenn es keine Einigung über meine Forderungen | |
gibt, dann gehe ich zum Staatspräsidenten und bitte ihn, einen neuen | |
Ministerpräsidenten zu suchen“, droht Jebali. | |
Dieses Ultimatum gilt seiner eigenen Partei. Denn diese lehnt eine | |
Regierungsumbildung bisher ab. Bei Ennahda hat sich der radikale Flügel, | |
der sogenannte Londoner Clan, durchgesetzt. Es sind diejenigen, die nach | |
der Revolution im Januar 2011 aus dem Exil zurückkamen. Ihr Führer ist der | |
Parteivorsitzende und das spirituelle Oberhaupt der Ennahda, Rachid | |
Ghannouchi. Er lebte 20 Jahre in einem Einfamilienhaus in London, während | |
Jebali mit einem heimischen Gefängnis vorliebnehmen musste. | |
## Forderung nach Neuwahlen wird populär | |
Doch nicht nur die Haltung von Ennahda stellt für Jebali ein Problem dar. | |
Am Sonntag zog sich eine der beiden kleinen, säkularen Parteien aus der | |
Regierungskoalition zurück. Der Kongress für die Republik (CPR) von | |
Staatspräsident Moncef Marzouki hatte seit Wochen auf eine Auswechslung des | |
unter Korruptionsvorwürfen stehenden Außenministers und des wegen | |
gerichtlicher Verfolgung von Künstlern und Intellektuellen zu trauriger | |
Berühmtheit gelangten Justizministers gefordert. | |
Ob der CPR einer Technokratenregierung unter Jebali zustimmen wird oder ob | |
der Bruch mit Ennahda zu einer neuen, nichtreligiösen Mehrheit im Parlament | |
führt oder ob Tunesien gar unregierbar wird, ist derzeit noch offen. Der | |
Vorsitzende der neuen Zentrumspartei Nida Tounis und einstige | |
Übergangspremier vor den ersten freien Wahlen im Oktober 2011, Béji Caïd | |
Essebsi, fordert unumwunden Neuwahlen. | |
Eine Idee, die bei nicht wenigen Tunesiern auf Zustimmung stößt. Denn die | |
Verfassungsgebende Versammlung war bisher nicht in der Lage, das neue | |
Grundgesetz auszuarbeiten. Der Einigungsprozess im säkularen Lager dürfte | |
den Einfluss der Islamisten bei einem Urnengang deutlich zurückdrängen. | |
10 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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