# taz.de -- Internationaler Frauentag: Die Unsichtbaren: Ist der Ruf erst ruini… | |
> Ute H. ist gleich drei mal unsichtbar: drogenabhängig, lesbisch, | |
> inhaftiert. Selbst im Gefängnis wird sie manchmal übersehen. | |
Bild: „Die Unsichtbaren“ - Protokolle der taz zum Internationalen Frauentag. | |
Unsichtbarer als ich kann man nicht sein. Ich bin jetzt 47 Jahre alt, | |
ungefähr 16 davon habe im Knast verbracht. Rein, raus, rein, raus, immer | |
wieder, seit ich als Kind auf die schiefe Bahn geraten bin. Seit Oktober | |
2012 bin ich wieder drin, diesmal in Berlin-Lichtenberg, in der | |
Justizvollzugsanstalt für Frauen. Wegen mehrfachen Diebstahls während | |
meiner Bewährungszeit habe ich fünf Jahre bekommen. | |
Hier bin ich weit weg von der Gesellschaft, für die existiere ich | |
eigentlich nicht. Auch nicht für meine Familie. Und oft sogar nicht mal für | |
meine Mitinsassen. Wir werden viel weggeschlossen hier, auch wenn das nicht | |
notwendig ist. Jeden Nachmittag, wenn wir Freizeit haben, stehen die | |
Zellentüren normalerweise offen, und wir dürfen uns im Hof oder in der | |
Wohngruppe frei bewegen. Zur Wohngruppe gehören Gemeinschaftsräume und eine | |
Küche. Aber manchmal müssen wir in unseren abgeschlossenen Hafträumen | |
bleiben. Dann ist nicht genügend Anstaltspersonal da, um uns zu | |
beaufsichtigen, und wir hocken jede für sich allein in der Zelle. | |
Aber das ist noch nicht alles. Ich bin drogenabhängig. Seit ich zwölf bin. | |
Ich bin nicht stolz drauf, aber es ist nun mal passiert. Drogensucht ist | |
eine Krankheit, aber die meisten Menschen sehen das anders. Die machen | |
einen großen Bogen um uns – Junkies sind dreckig, denken die, sie sind | |
minderwertig und asozial. So denken auch viele Beamte im Knast. Die hier | |
auf meiner Station zwar nicht. Aber manchmal kommen welche von anderen | |
Knästen, die mit Junkies gewöhnlich nichts zu tun haben, und die hier | |
Dienst schieben. Denen merkt man an, dass die Drogenabhängige nicht für | |
voll nehmen, dass die für sie zweite Wahl sind. | |
Übersehen und abgestempelt zu werden, das zieht sich durch mein Leben wie | |
ein roter Faden. Ich bin bürgerlich aufgewachsen, in einem kleinen Dorf am | |
Niederrhein, einer sehr katholischen Gegend. Meine Eltern waren | |
selbstständig, ich habe noch sechs Geschwister. Da kriegt kein Kind die | |
Aufmerksamkeit, die es will. Ich war schwieriger als meine Geschwister und | |
aufmüpfig, ich wollte mich nicht anpassen. Dann merkte ich auch noch, dass | |
ich lesbisch bin. Für meine Eltern war das alles zu viel, und sie haben | |
mich erst ins Heim gegeben und dann aufgegeben. | |
## Ich war meinem Vater peinlich | |
Aus dem Heim bin ich immer abgehauen, ich hab in einer Clique rumgehangen, | |
wir haben Haschisch geraucht und waren viel unterwegs, hauptsächlich | |
nachts. Wenn ich morgens in meinem Heimatdorf aufgetaucht bin und die Leute | |
mich gesehen haben, war das vor allem meinem Vater peinlich. Der wollte | |
mich am liebsten total unsichtbar machen und war dann froh, als ich eines | |
Tages ganz weg war. Das tut sehr weh, vor allem, wenn es die eigenen Eltern | |
sind. Aber ich habe mich damit abgefunden. | |
Irgendwann habe ich Heroin gespritzt, später Koks geschnupft. Das Zeug war | |
damals an der holländischen Grenze, wo ich mich rumgetrieben habe, leicht | |
zu bekommen. Ich konnte alles Mögliche schmuggeln, mit zwölf sah ich aus | |
wie eine Sechszehnjährige. Und dann ging alles ganz schnell mit meiner | |
„Karriere“: Um die Drogen zu bezahlen, brauchte ich Geld. Wie kam ich da | |
ran? Beschaffungskriminalität, das Übliche eben. Ich habe auch viel in | |
Kaufhäusern geklaut. Das finde ich nicht schlimm, die Einkaufstempel sind | |
versichert und haben genug Geld. Ich habe nie jemandem etwas getan, keine | |
Oma überfallen oder jemanden umgebracht. Waffen? Nee, das ist nichts für | |
mich. Das denken aber die meisten Leute draußen: Im Knast sitzen vor allem | |
Mörder. Das ist natürlich Quatsch. Die meisten Frauen sitzen wegen | |
Kleindelikten und Drogen, manche 100 Tage, manche ein paar Monate. Es gibt | |
auch welche, die wegen Schwarzfahren hier sind. So was wird streng | |
bestraft. Und was kriegt man für Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch? Nur | |
ein paar Jahre. Das ist doch ein Witz! | |
Ich habe immer wieder versucht, aus dem Kreislauf von Sucht, Kriminalität | |
und Unsichtbarkeit rauszukommen. Toll ist so ein Leben nämlich nicht. Aber | |
ich stürze immer wieder ab. Vor allem dann, wenn ich schlimme Erfahrungen | |
mache oder eine Lebenskrise habe. Einmal, als ich meine Freundin, die eine | |
solide Partie war, verlassen habe für eine andere. Die hat aber viel | |
gekokst, und ich war schneller wieder im Knast war, als ich rausgekommen | |
war. | |
## Als Insassenvertreterin bin ich sichtbar | |
Ein anderes Mal ist meine Partnerin an Lungenkrebs gestorben. Und das | |
letzte Mal, das war 2006, hatte ich eine Lebensmittelvergiftung, an der ich | |
fast gestorben wäre. Auf dem Weg zur Toilette zu Hause bin ich einfach | |
umgefallen und musste reanimiert werden. Ich lag zehn Monate im Wachkoma, | |
ich war blind und gelähmt. Nur hören konnte ich noch, aber ich konnte | |
nichts sagen und nichts machen. | |
Jetzt bin ich zwar wieder gesund, aber arbeitsunfähig. Also bin ich den | |
ganzen Tag in meinem Haftraum oder in der Wohngruppe. Das ist schwierig, | |
aber ich habe gelernt, mich zu beschäftigen. Ich lese, schaue fern, | |
irgendwas finde ich immer. Früher konnte ich das nicht, da bin ich den | |
ganzen Tag unruhig hin und her gerannt, von einer Zellenwand zu anderen. | |
Ich engagiere mich auch, für mich und für andere, ich bin | |
Insassenvertreterin. Das heißt, ich bin von meiner Wohngruppe beauftragt, | |
der Anstaltsleitung zu sagen, was verbessert werden muss. Das ist einer der | |
wenigen Momente, in denen ich sichtbar bin. Bei den Gesprächen sind auch | |
immer Insassenbetreuerinnen von draußen dabei. Die machen das ehrenamtlich | |
und sind in der Regel Anwältinnen. | |
Die Insassenvertreterinnen treffen sich einmal in der Woche mit dem | |
Anstaltsleiter und den Insassenbetreuerinnen. Gerade geht es um | |
Wasserkocher. Wir haben in der Küche keine Möglichkeit, Wasser zu kochen – | |
außer mit Wasserkochern. Aber die sollen abgeschafft werden, weil sie | |
angeblich gefährlich sind. Sie könnten ja einen Brand verursachen, oder man | |
könnte damit eine Scheibe einschlagen. Das kann ja alles sein, aber darum | |
geht es uns nicht. Wir wollen wirklich nur Wasser damit kochen. Wenn man | |
den ganzen Tag auf Hütte ist, braucht man ab und zu mal einen Kaffee. | |
Als Insassenvertreterin kann ich was erreichen. Vor Kurzem haben wir neue | |
Matratzen bekommen, weil die alten durchgelegen waren. Oder | |
Spritzenautomaten: Wir sind der einzige Knast in ganz Deutschland mit | |
solchen Automaten auf den Stationen. Wie die Drogen hier reinkommen? Drogen | |
gibt es in jedem noch so gut gesicherten Knast, viel wird bei den Besuchen | |
reingeschmuggelt. Jede Frau, die Druck hat und sich einen Schuss setzen | |
muss, kann im Automaten eine frische Einwegspritze ziehen. Dafür muss sie | |
eine alte, benutzte reinstecken, sonst kommt keine neue raus. Die Frauen | |
brauchen saubere Spritzen, um sich vor HIV und Gelbsucht zu schützen. Jetzt | |
ist der Automat kaputt. Aber der wird repariert, wenn wir das sagen. | |
Ich will raus aus dem Knast-Freiheit-Knast-Kreislauf, ich will raus aus der | |
Unsichtbarkeit. Obwohl es auch von Vorteil ist, wenn man übersehen wird. | |
Man kann machen, was man will, so nach dem Motto: Ist der Ruf erst | |
ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. | |
## Wenn ich hier raus bin, will ich arbeiten | |
Aber das will ich nicht mehr. Ich will einfach ein ganz normales Leben | |
führen. Seit ich in Berlin bin, seit 1999, habe ich einen anderen | |
Bekanntenkreis. Das sind stinknormale Leute, die stinknormal arbeiten | |
gehen. Die wissen von meiner Vergangenheit und meiner Drogensucht, die | |
wissen auch, dass ich hier drin bin. Die lassen mich aber nicht fallen, die | |
halten zu mir. Trotzdem will ich nicht, dass die mich im Knast besuchen. | |
Die sollen das hier nicht sehen, die kalte Atmosphäre und die Gänge und so. | |
Ich telefoniere öfter mit ihnen, wir haben Telefone auf den Zellen, der | |
totale Luxus. Wir können nach draußen anrufen, aber nicht angerufen werden | |
– aus Sicherheitsgründen. Wir bekommen jeden Monat 15 Euro, die können wir | |
zum Telefonieren nutzen oder zum Fernsehen ausgeben. Wenn dieses Kontingent | |
verbraucht ist, müssen wir warten bis zum nächsten Monat. | |
Wenn ich hier raus bin, will ich arbeiten. Meine Bekannten wollen mir | |
helfen. Die sind im Einzelhandel tätig, ich könnte bei ihnen einsteigen. | |
Das haben sie mir zumindest versprochen. Vorausgesetzt auch, das geht. Ich | |
darf nämlich nur noch höchstens vier Stunden am Tag arbeiten. Aber ich | |
glaube daran, dass ich das schaffe. | |
9 Mar 2013 | |
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