| # taz.de -- Internationaler Frauentag: Die Unsichtbaren: Die Stubenhockerin | |
| > Sabine Schreiber hat die Leukämie besiegt. Doch die Krankheit hat tiefe | |
| > Spuren hinterlassen. Sie lebt mit einem Müdigkeitssyndrom. | |
| Bild: „Die Unsichtbaren“ – Protokolle der taz zum Internationalen Frauent… | |
| Ich fühle mich sehr oft, als würde ich am nächsten Tag eine starke Grippe | |
| bekommen, mit Gliederschmerzen und Schwindel. Es kommt vor, dass ich vier, | |
| fünf Stunden am Stück etwas machen kann; zwei bis drei Stunden sind aber | |
| eher der Schnitt, im Winter werden die Phasen kürzer. Mit Guarana oder | |
| Koffein kann ich mich noch etwas pushen. Dann muss ich mich hinlegen. Wenn | |
| ich sehr erschöpft bin, schlafe ich ein. Normalerweise meditiere ich im | |
| Liegen und entspanne, bis ich wieder Kraft habe. | |
| Ich bin jetzt 38. Seit zweieinhalb Jahren ist die Fatigue nach Krebs bei | |
| mir so stark ausgeprägt, dass ich nicht mehr arbeiten kann. Mein Leben ist | |
| heute ganz anders als früher. Ich bin viel unsichtbarer, reduzierter, | |
| zurückgenommener geworden, als ich es von meiner Anlage her bin – ich bin | |
| eigentlich ein sehr aktiver, sozialer, kontaktfreudiger Mensch. Jetzt | |
| verbringe ich sehr viel mehr Zeit zu Hause, als ich möchte. | |
| Vor fünf Jahren wurde Leukämie bei mir festgestellt. Es war eine Zeit, in | |
| der ich gerade sehr glücklich war: Ich hatte zuvor in Brüssel gelebt und | |
| war froh, wieder in Berlin zu sein, weil ich die Stadt so liebe. Im ersten | |
| Moment war ich entsetzt. Und total traurig. Dann habe ich nur daran | |
| gedacht, dass ich überleben will. Ich war naiv und dachte, dass mein Leben | |
| danach so wie davor weitergehen würde. | |
| ## Ich muss genau planen | |
| Während der Leukämie wusste ich oft nicht, ob ich die nächste Chemo | |
| überstehe. Nach 13 Monaten hatte ich die Krankheit hinter mir. Doch der | |
| richtige Umbruch kam erst im Anschluss, mit der Fatigue nach Krebs. Während | |
| der Leukämie ging es mir meist besser als heute, auch wenn es natürlich | |
| Phasen gab, in denen ich mich sehr schlecht gefühlt habe. Aber jetzt habe | |
| ich viel weniger Kraft. | |
| Meine Energie ist wie eine Währung. Ich muss mir gut überlegen, wofür ich | |
| sie ausgeben will. U-Bahn-Fahren, das geht, auch wenn mich Lärm sehr | |
| anstrengt. Doch ich kann nicht zum Beispiel tagsüber nach Schöneberg fahren | |
| und abends ausgehen. Ich war früher sehr spontan. Jetzt muss ich sehr genau | |
| planen: Was ist wie anstrengend, und wie viel Erholung brauche ich? | |
| ## Die Spätfolgen von Krebs | |
| Woher die Fatigue kommt, ist nicht klar. Meine Ärztin meint, sie hängt | |
| wahrscheinlich damit zusammen, dass die Chemo mein Immunsystem zerstört | |
| habe. Da wird im Moment noch viel geforscht. Vor 20 Jahren waren die | |
| Überlebensraten bei Krebs ja ganz anders als heute. Daher werden die | |
| Spätfolgen erst allmählich bekannter. Diese Probleme werden oft nicht | |
| wahrgenommen, weil die meisten Menschen denken, dass nach der Therapie | |
| alles wieder gut sei. Dass das oft nicht der Fall ist, das bleibt | |
| unsichtbar und damit auch die Betroffenen, die daran leiden. Ich selbst | |
| habe in der Leukämie-Anschlussbehandlung erfahren, dass es so etwas gibt. | |
| Da dachte ich: Ich krieg das nicht. Zu akzeptieren, dass es doch so ist, | |
| war ein Prozess, der lange gedauert hat. Ich war nie eine Stubenhockerin. | |
| Jetzt bin ich eine. | |
| Ich habe als Referentin der EU politische Bildungs- und | |
| Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Als die Leukämie geheilt war, habe ich | |
| sofort wieder angefangen zu arbeiten. Nach einem Jahr merkte ich, wie meine | |
| Kraft nachließ. Die Phasen der Mattigkeit, der Müdigkeit, der Erschöpfung | |
| wurden länger und nahmen zu. Ein halbes Jahr später musste ich den Beruf | |
| aufgeben. | |
| ## Früher stand ich in der Öffentlichkeit | |
| Früher stand ich stark in der Öffentlichkeit. Heute fühle ich mich eher | |
| unsichtbar, weil ich nicht mehr in die Arbeitswelt eingebunden bin. Ich | |
| habe noch Kontakt zu meinen Kollegen, und wenn ich sie im Büro besuche, | |
| dann werde ich schon etwas wehmütig, dass ich den Bürgern nicht mehr die EU | |
| erklären kann. Das hat bei mir eine Lücke hinterlassen, gerade weil ich | |
| mich sehr mit der Europäischen Union identifiziere. Ich habe die politische | |
| Kommunikation immer als sehr sinnvoll empfunden. Es war mir wichtig, den | |
| gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie zu stärken. Neulich habe | |
| ich im Kino einen Werbespot der EU gesehen. Da ist mir wieder bewusst | |
| geworden, dass ich jetzt nicht mehr mitwirke am Großen und Ganzen. | |
| Ich hoffe, dass es mir irgendwann wieder besser geht, aber das kann mir | |
| keiner sagen. Was ich tun möchte, ist nicht mehr das, was ich tun kann. Die | |
| Phase, wo mir klar wurde, dass dieser Zustand jetzt nicht nur ein paar | |
| Wochen dauern wird – das war schon hart. Ich musste mir auch sehr genau | |
| überlegen, wie ich es kommuniziere. Die Leute sagen mir immer: „Du siehst | |
| so gut aus.“ Ich empfand das lange nicht als Kompliment; ich dachte, ich | |
| müsse mich rechtfertigen, warum ich gut aussehe und trotzdem keine Kraft | |
| habe. | |
| Mir fehlen Menschen in meinem Leben. Früher bin ich viel verreist. Meine | |
| Schwester lebt in Zürich, eine Freundin in England. Ich war fast jeden | |
| Monat unterwegs. Das kann ich nicht mehr. Ein großer Vorteil ist, dass ich | |
| so zentral wohne, weil meine Freunde mich oft in meiner Küche besuchen | |
| können. Manchmal bin ich überrascht, wenn ich höre, was sie alles | |
| unternehmen, was ich früher mit ihnen gemacht hätte. Im ersten Jahr der | |
| Fatigue habe ich oft Kino- und Theatertickets verschenkt oder verfallen | |
| lassen, weil so schwer vorherzusehen ist, ob ich es schaffe. Inzwischen | |
| mache ich es so, dass ich mich nie zu zweit verabrede, sondern immer mit | |
| mehreren, damit die anderen trotzdem noch ausgehen können, wenn ich absagen | |
| muss. Ich plane jetzt immer Rückfalloptionen ein. Das sind Strukturen, die | |
| ich mir erarbeiten musste. | |
| ## Zurück ins Leben | |
| Zugleich habe ich Strategien entwickelt, die Unsichtbarkeit zu überwinden | |
| und meinem Leben einen Sinn zu geben: ich habe eine Selbsthilfegruppe | |
| gegründet. Mir ist es sehr wichtig, etwas zu bewirken. Die Gruppe heißt | |
| „Zurück ins Leben nach Krebs“. Wir sind zehn, zwölf Leute, alle noch jung. | |
| Ich hatte zunächst bei der Berliner Krebsgesellschaft nach Gruppen zum | |
| Thema Fatigue gefragt. Da sagte man mir: Das gibt es nicht, aber ich könne | |
| ja selbst eine gründen. | |
| Das habe ich im April 2011 zusammen mit einer anderen Frau gemacht. | |
| Manchmal organisieren wir Vorträge von Referenten oder Workshops, zu Fragen | |
| wie: „Wie belastbar bin ich?“ oder „Wie kommuniziere ich meine | |
| eingeschränkte Belastbarkeit?“ Solche Angebote wollen wir in diesem Jahr | |
| noch ausweiten, weil es vieles gibt, worüber man sich austauschen kann. | |
| Vorher habe ich der EU mein Gesicht gegeben, jetzt mache ich das für die | |
| Fatigue. Ich habe eine schöne Definition von Gesundheit gehört: Gesund ist, | |
| wer mit seinen Defiziten umgehen kann. Obwohl ich einer Definition nach | |
| chronisch krank bin, denke ich, ich kann heute damit umgehen. | |
| Es gibt Menschen, die neigen zur Bitterkeit, dazu gehöre ich zum Glück | |
| nicht. Sicher kommen Momente, in denen ich eifersüchtig bin, aber die gehen | |
| vorüber. Wenn ich beispielsweise Kinder sehe, weil ich keine haben kann. | |
| Oder wenn mir Freundinnen erzählen, wie sie Karriere machen. Dann freut | |
| mich das, aber es macht mich auch traurig, weil ich mich frage: Und was | |
| mache ich? Mittlerweile bin ich so weit, dass ich sagen kann: Die | |
| Selbsthilfegruppe, das ist meine Arbeit. Auch das ist mir anfangs | |
| schwergefallen. | |
| Was ich vermisse, sind Kollegen und Anerkennung. Manche Menschen sind | |
| alleine glücklich, ich bin es nicht. Doch bin immer anpassungsfähig | |
| gewesen. Ich habe in England, Frankreich und Belgien gelebt. Jetzt sind die | |
| Herausforderungen andere. Zugleich versuche ich, Situationen positiv zu | |
| bewerten. Ich war lange verzweifelt, meinen früheren Beruf nicht mehr | |
| ausüben zu können. | |
| ## Telearbeit und Teilzeit | |
| Heute bin ich auch dankbar, dass ich meine Zeit und Projekte selbst | |
| gestalten kann. Nur wünschte ich mir, dass mehr über alternative | |
| Beschäftigungsmodelle nachgedacht würde, nicht nur für Familien, auch für | |
| Leute mit körperlichen Einschränkungen. Es wäre schön, wenn es Modelle | |
| gäbe, die an Menschen wie uns angepasst sind und flexibleres Arbeiten wie | |
| Telearbeit oder mehr Teilzeitarbeit öfter ermöglichen würden. | |
| Derzeit erfüllt mich die Arbeit für die Selbsthilfegruppe. Ich mag es, | |
| Netzwerke zu knüpfen. Meine Vision ist, ein Mentoring-Programm aufzubauen, | |
| um Menschen nach ihrer Krebserkrankung zu begleiten. Wie es in ein oder | |
| zwei Jahren sein wird, weiß ich natürlich nicht. Aber durch die Krankheit | |
| habe ich gelernt, in dem Moment zu leben. | |
| 8 Mar 2013 | |
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