| # taz.de -- Premiere an der Komischen Oper: Unter dem Besteckwald | |
| > Der Bühnenbildner Reinhard von der Thannen führt Regie und versetzt | |
| > Hänsel und Gretel ins Zeitalter des technischen Designs. | |
| Bild: Theresa Kronthaler als Hänsel und Maureen McKay als Gretel verirren sich… | |
| Der liebe Gott lässt am Ende goldenen Schnee auf die Bühne rieseln, und | |
| alles ist wieder gut. Die Komische Oper Berlin ist vermutlich das einzige | |
| Opernhaus der Welt, in dem Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ | |
| bisher noch nie aufgeführt worden ist. | |
| Reinhard von der Thannen, als Bühnenbildner mit Preisen überhäuft, hat nun | |
| die Lücke geschlossen, und weil das Berliner Wetter gerade ziemlich | |
| weihnächtlich ist, ist es jetzt auch hier so, wie es überall sein muss, | |
| seit der Uraufführung von 1893 in Weimar: Vor Weihnachten steht „Hänsel und | |
| Gretel“ auf dem Spielplan, damit die Kinder auch einmal in die große Oper | |
| mit gehen dürfen, oder müssen. | |
| Es sollten in diesem Fall aber wirklich Kinder von heute sein, die vom | |
| ersten Tag an gewohnt sind, in der Welt des industriellen Designs und den | |
| Codes der Werbung zu leben, umgeben von den Schaufensterauslagen der Mode- | |
| und Möbelhäuser, den Clips von YouTube oder Viva auf dem Smartphone. Nur | |
| der Sound klingt ein bisschen altmodisch, aber das macht nichts. | |
| Humperdinck war Pop von Anfang an, und ist es heute noch, wenn man ihn so | |
| gut spielt und singt wie das Orchester und das Ensemble der Komischen Oper | |
| unter ihrer Kapellmeisterin Kristiina Poska aus Estland. | |
| Die junge Dirigentin macht ihre Sache ausgezeichnet, aber es ist halt auch | |
| hier so wie immer und überall: Humperdincks singulärer Welthit ist braves | |
| Mittelmaß. Die Musik kokettiert hübsch mit ein paar echten Kinderliedern, | |
| steuert ein paar neue hinzu, und füllt dazwischen volle drei Akte mit | |
| gefällig romantischem Wohlklang. Daran kann Poska gar nichts ändern, und | |
| von der Thannen weiß ohnehin, dass dieses Stück vor allem Bilder braucht. | |
| ## Ballett der Ostereier und Lollipops | |
| Es geht los mit einem Video aus dem Computer. Lollipops und Ostereier | |
| tanzen ein rasendes Ballett, klappernde Gebisse mischen sich darunter und | |
| morphen die virtuellen Objekte mit ihren Zähnen. Die optische Kraft dieses | |
| Films von Björn Verloh ist so fesselnd, dass man Humperdincks Ouvertüre | |
| darunter vergessen kann, die das Orchester live spielt. | |
| Ein wirklich großer Bühnenbildner ist von der Thannen aber wahrscheinlich | |
| deswegen, weil er Videokunst dieser Qualität niemals als bloßen | |
| Bühnenhintergrund missbraucht. Sie muss so für sich stehen wie hier, ebenso | |
| wie nachher die Bühne für sich selbst stehen muss, als reale Architektur | |
| eines realen Spielraumes für die Personen des Theaters. | |
| Dieser Raum ist zunächst das Innere eines riesigen, runden Tanks. Alles ist | |
| weiß, auch der Tisch in der Mitte, an dem Hänsel und Gretel sitzen, in | |
| weißen Anzügen aus einer vermutlich teuren Boutique. Sie spielen mit leeren | |
| Löffeln, weil sie nichts zu essen haben. Sogar die Schubladen unter dem | |
| Tisch sind leer. Sie tanzen, bis die Mutter kommt, ganz in schwarz | |
| gekleidet, auch sehr apart, aber böse. Sie sperrt sie in den Schrank. | |
| So konkret die Objekte sind, so abstrakt ist ihr Arrangement zum Bild. Nur | |
| der Schrank ist zweideutig, nämlich verschlossen nach vorne, aber offen | |
| nach hinten in die Welt der zwei nachfolgenden Akte, in denen Grimms | |
| Märchen überhaupt erst zum Märchen wird, denn zunächst schildert es ja nur | |
| sehr reales, soziales Elend. | |
| ## Aus dem Studio Jürgen Uedelhoven | |
| Hänsel und Gretel, die verstoßenen Kinder, stehen im Wald, der hier aus | |
| riesengroßen Löffeln, Messern und Gabeln besteht. Edel und matt glänzend | |
| hängen sie vor der weißen Bunkerwand. Theresa Kronthaler und Maureen McKay | |
| singen darunter ihre Lieder („Ein Männlein steht im Walde“), und fürchten | |
| sich, aber man weiß nicht, wovor. | |
| Das Dekorationsbesteck stammt aus dem weltweit renommierten Studio von | |
| Jürgen Uedelhoven, das sein Geld mit der Autoindustrie verdient, aber die | |
| Abstraktion dieses Bildes zahlt einen hohen Preis: Nichts daran ist so | |
| unheimlich, dass man sich darin verlaufen könnte. Warum auch? Man geht | |
| weiter und schaut sich das nächste Schaufenster an. | |
| Dort steht nach der Pause denn auch prompt die ganz große Sahnetorte. | |
| Riesenhaft wie das Besteck davor, aber nun triefend vor Pop in leuchtenden | |
| Farben. Zucker für die Augen wohin man schaut, und ganz oben drauf die | |
| grüne Knusperhexe, im Scheinwerferlicht funkelnd. Endlich versteht man, | |
| warum zuvor alles rund ummantelt sein musste. Es war nur die Schachtel für | |
| diese Apotheose der Bühnenarchitektur. | |
| Es macht sichtlich Spaß, in diesem Bild zu spielen. Der Käfig für den armen | |
| Hänsel ist nur eine Ecke, die vollendet kunstgerecht aus der Designertorte | |
| herausgeschnitten wird. Ursula Hesse von den Steinen singt dazu eine | |
| lüstern angesexte Puppe mit ausgestopftem Hinterteil, die am Ende in | |
| krachenden Theaterblitzen und Nebelschwaden verpufft. | |
| Der Kinderchor singt, und der Goldschnee fällt so wunderbar, dass man | |
| vergessen möchte, die paar Fragen zu stellen, die man aber dennoch stellen | |
| muss: War Grimms Märchen nicht doch ganz anders, nämlich böser und | |
| grausamer als dieser Glanz vollendeter Ausstattungstechnik? Für das | |
| Programmheft hat sich von der Thannen ein paar Gedanken über die | |
| Psychologie von Kindern gemacht, über ihre Pubertät und die damit | |
| verbundenen Ängste. Zu sehen ist davon auf seiner Bühne nichts. | |
| Nächste Aufführungen: 27., 31.3., 4., 6., 10. 4. Behrenstraße 55-57 10117 | |
| Berlin | |
| 25 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Niklaus Hablützel | |
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