# taz.de -- Kulturhauptstadt Marseille: „Nur die Stadt ist wirklich“ | |
> Vom einstigen Tor zum Orient zum Umschlagplatz der neuen Méditerranée: | |
> Marseille arbeitet schwer an seinem Image, und das ist gut für die | |
> Bewohner. | |
Bild: 800 Millionen Euro werden in die Aufrüstung der Kulturhauptstadt investi… | |
MARSEILLE taz | Es hat geschneit in Marseille, und mehrere tausend Menschen | |
spielten auf dem Platz d’Estienne-d’Orves ausgelassen wie Kinder mit den | |
„Flocken“, bei denen es sich in Wirklichkeit um Daunen handelt. Diese hat | |
nicht Frau Holle über ihren Köpfen ausgeschüttet, sondern eine Gruppe als | |
Engel kostümierter Akrobaten. | |
Das war eine der vielen Attraktionen beim Fest, mit dem Marseille sein Jahr | |
als europäische Kulturhauptstadt eingeleitet hat. Applaus? Nein, banal wie | |
Schnee von gestern, geradezu „ärmlich“ sei diese Eröffnungsfeier von | |
[1][„Marseille Provence 2013“] gewesen, ätzte aus der Hauptstadt die | |
Tageszeitung Libération. Ein fast schon erwartbarer Verriss. | |
Weniger Vorurteile gegen Marseille und die französische Provinz scheint man | |
hingegen im fernen Ausland zu haben. Bei der New York Times beispielsweise | |
hat das reichhaltige und auf das ganze Jahr verteilte Programm große | |
Neugier geweckt. Wie anders wäre es zu erklären, dass Marseille, die | |
französische Metropole am Mittelmeer, bei der New York Times dieses Jahr | |
auf Rang drei der „Places to be“ steht? | |
Marseille hatte in Frankreich selber allerdings schon immer einen schweren | |
Stand gegen die traditionelle Voreingenommenheit der Pariser. Marseille | |
gleich Bouillabaisse, Korruption und Killer mit Kalaschnikows. Die | |
aktuellen Meldungen dominieren blutige Abrechnungen im Drogenmilieu. | |
## Katastrophales Image | |
Die Stadt an der Rhône-Mündung hat ein katastrophales Image: schmutzig, | |
laut und passé, so klagen häufig auch Touristen aus dem Ausland. | |
Tatsächlich wurde Kultur in Marseille viele Jahren als „quantité | |
négligeable“ betrachtet. | |
Die Erschließung der Randquartiere mit öffentlichen Verkehrsmitteln hatte | |
keine Priorität unter dem gealterten Bürgermeister Jean-Claude Gaudin. Doch | |
das soll nun anders werden, verspricht Gaudin. Und ein erster Augenschein | |
bestätigt, dass in der Stadt ein urbanes Lifting mit kultureller | |
Aufhübschung in vollem Gange ist. | |
Rund 800 Millionen Euro werden derzeit in die Aufrüstung zur europäischen | |
Kulturhauptstadt investiert. Das Programm von „Marseille Provence 2013“ | |
passt kaum in ein dickes Buch und beinhaltet auch Veranstaltungen in den | |
proletarisch geprägten Nachbarstädten La Ciotat und Aubagne, aber auch in | |
das von Festivals bekannte Avignon, Arles und Aix-en-Provence. | |
## Alter Hafen, frisch renoviert | |
Mit unübersehbarem Stolz entdecken nun auch die Einheimischen, was sich | |
Architekten ausdachten und was seit Jahren hinter den Palisaden unzähliger, | |
ärgerlicher Bauplätze entwickelt wurde. Für die monatelangen | |
Verkehrsbehinderungen werden sie nun mit einer ausgedehnten Fußgängerzone | |
rund um den alten Hafen entschädigt, der so endlich nun wieder als | |
historisches Herz der Stadt bezeichnet werden kann. | |
Neue Museen und Zentren des Kulturaustauschs rund ums Mittelmeer wie Rudy | |
Ricciottis Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée im | |
Hafenviertel La Joliette und gleich nebenan Stefano Boeris nicht weniger | |
gewagte Villa Méditerranée sowie ein paar hundert Meter davon entfernt auch | |
Kengo Kumas futuristisches Haus für den Fonds Régional d’Art Contemporain | |
(FRAC) werden erst noch eingeweiht. | |
Bereits zu besichtigen sind jedoch Ausstellungen in kühn umfunktionierten | |
Gebäuden wie in der ehemaligen Tabakfabrik Friche Belle de Mai, der | |
ehemaligen Hafenhalle J1 oder einem einstigen Getreidesilo in den Docks. | |
Qualitativ hochwertige Ausstellungen wie „Von Cézanne bis Matisse“ im | |
renovierten Musée Granet von Aix oder einer Le-Corbusier-Retrospektive im | |
J1 in Marseille rivalisieren mit Konzeptkunst in der Friche Belle de Mai | |
oder mit Theaterproduktionen von Macha Makeïeff im Théâtre de la Criée oder | |
Off-Veranstaltungen wie „This is (not) music“ und dem GR2013, einem 360 | |
Kilometer langen Wanderweg durch die Provence. Fast verliert man sich in | |
der Fülle des Angebots. | |
## Zweitgrößte Stadt Frankreichs | |
Die älteste und zweitgrößte Stadt Frankreichs bedarf in jeder Hinsicht | |
immer noch einer Gebrauchsanweisung und Wegleitung. Zur Einführung | |
empfiehlt es sich, neben Reiseführern vor allem die Romane des 2000 | |
verstorbenen Marseiller Krimiautors Jean-Claude Izzo zu lesen, der im | |
Schlusswort seiner „Marseille-Trilogie“ schrieb: „Nur die Stadt ist | |
wirklich. Marseille. Und alle, die dort leben.“ | |
Kultur ist in dieser durch Einwanderungswellen in mehr als 2.600 Jahren | |
gewachsenen Polis unweigerlich ein Plural: ein „multikulturelles“ Gemisch | |
von Menschen und Einflüssen aus dem Süden, aus Korsika, Armenien, | |
Griechenland, Nordafrika, aus Madagaskar, aus den Komoren. Zuletzt kamen | |
die Immigranten aus dem Maghreb, die in ihren berüchtigten nördlichen | |
Außenquartieren leben, die auch während des Kulturhauptstadtrummels – von | |
wenigen Veranstaltungen abgesehen – weiterhin eher auf Distanz gehalten | |
werden. | |
Warum sind diese Viertel immer noch so schlecht an die Stadt angeschlossen? | |
Im Gespräch antwortet Bürgermeister Gaudin mit entwaffnender Offenheit, es | |
sei keine Priorität, den Zugang von dort ins „Herz“ der Stadt mit | |
öffentlichen Verkehrsmitteln zu erleichtern. | |
Im Zentrum, beim alten Hafen, zu Füßen der von ihrem Hügel hinabschauenden | |
(Basilika) Notre-Dame de la Garde, der „Bonne Mère“ (guten Mutter), legen | |
schon lange keine Passagierdampfer mehr an. Auch große Frachter mit vollen | |
Laderäumen aus den früheren Kolonien nicht. Doch noch immer stehen hier | |
Menschen und schauen erwartungsvoll aufs Mittelmeer hinaus. | |
## Hauch von Nostalgie | |
Die lange Geschichte dieser Ein- und Ausreisen, der Ansiedlung, der | |
kolonialen Eroberungsfeldzüge, aber auch die Flucht ins Exil ist in der | |
Ausstellung „Méditerranées“ im ehemaligen Hafenhangar J1 in ausrangierten | |
Containern zu verfolgen: von Troja und Alexandrien via Karthago und die | |
Entwicklung der Handelsschifffahrt bis in die Neuzeit rund um dieses „Mare | |
Nostrum“. Auf jeder der Etappen werden die historischen Bilder und | |
Erzählungen mit Videokurzfilmen konfrontiert, in denen Menschen aus den | |
heutigen Anrainerstaaten über ihre Probleme und Visionen von heute reden. | |
Ein Hauch von Nostalgie ist kaum zu übersehen. | |
Die „Mediterraneität“ dominiert thematisch die meisten anderen | |
Ausstellungen, so auch bei der für Juni geplanten Eröffnung von dem Museum | |
mit dem programmatischen Namen Musée des Civilisations de l’Europe et de la | |
Méditerranée (MUCEM), das mit seiner unverwechselbaren spektakulären | |
Architektur selbst wie ein Leuchtturm auf die Bucht ausstrahlt und zum | |
neuen Wahrzeichen von Marseille werden soll. | |
Einst Europas Tor zum Orient erhebt Marseille jetzt aufgrund seiner langen | |
Geschichte den Anspruch, der bedeutendste Umschlagplatz der „mediterranen“ | |
Kulturen zu werden. Das Label „Marseille Provence 2013“ soll diese | |
Metamorphose beschleunigen. Der Titel der Hauptstadt Frankreichs ist | |
unwiederbringlich an Paris vergeben. Der Rang der mediterranen | |
Kulturkapitale ist aber womöglich noch zu erobern. | |
14 Apr 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.mp2013.fr/ | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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