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# taz.de -- Bandenkrieg in Marseille: Eine zweite Chance
> „Dealen ist doch kein Beruf und keine Zukunft“, sagt Samia Ghali. Die
> Senatorin aus Marseille schlägt Alarm – ein Bandenkrieg bedroht die
> Stadt.
Bild: „Die Provokation ist mir jedenfalls gelungen,“ sagt Senatorin Ghali.
MARSEILLE taz | Wo geht es zur Front? Von einem „Bandenkrieg“ im Norden von
Marseille war im Fernsehen die Rede. Der fast 70-jährige Taxifahrer, der
sich „Monsieur Josi“ nennt, lacht nicht. Er schimpft über die Polizei, die
nie dort sei, wo man sie brauche. Er bestätigt, dass es einige „Cités“
gebe, jene Hochhaussiedlungen mit Sozialwohnungen, wo er selbst am Tage
nicht gern und nachts „ganz sicher nicht“ hinfahre.
Er ist nicht der Einzige. Auch Ärzte, Sozialhelfer, die Feuerwehr und
selbst die Polizei meiden die Gegend. Auf dem vom Fremdenverkehrsamt
verteilten Stadtplan fehlen diese Quartiere, als könne so ihre Existenz
geleugnet werden.
Eine „unsichtbare Mauer“ trenne den Norden vom Rest der Stadt, erklärt
Samia Ghali. Sie ist Senatorin und Bezirksbürgermeisterin des 15. und des
16. Arrondissements, die zu dieser gemiedenen Zone gehören. Noch schlimmer
findet sie es, dass diese Grenze in den Köpfen der Menschen existiert.
„Wenn die Leute von hier ins Zentrum an der Cannebière und rund um den
Alten Hafen fahren, sagen sie: Wir fahren nach Marseille runter, als wenn
sie selber nicht zu dieser Stadt gehören würden.“ Das Rathaus des
Außenbezirks, in dem Ghali empfängt, liegt am Rande eines Parks und hat
einen hübschen Innenhof, der von der spätsommerlichen Sonne in das für die
Provence so typische milde Licht getaucht wird.
## Drogenhandel ernährt Familien
Das stimmt Ghali nicht versöhnlicher. Sie bedauert es, dass ihre Stadt
wegen einer Serie von blutigen Abrechnungen in letzter Zeit Schlagzeilen
gemacht hat. „Der Drogenhandel ist heute der größte Arbeitgeber der jungen
Männer in diesen Quartieren und ernährt indirekt ganze Familien“, sagt sie
und setzt erregt hinzu: „Aber Dealen, das ist kein Beruf und keine Zukunft.
In diesem Metier wird aus den geringfügigsten Anlässen getötet.“ Diesen
Sommer ist der Sohn ihrer besten Schulfreundin auf der Straße erschossen
worden.
In einem Interview mit der Lokalzeitung La Provence hat Samia Ghali vor
zwei Wochen den Einsatz der Armee gefordert und damit national für Aufsehen
gesorgt. Das Militär solle die Dealer entwaffnen und den Zugang zu den
„Supermärkten des Drogenhandels“ blockieren. „Ohne Nachfrage kein Angebo…
lautet Ghalis Logik zur Bekämpfung dieser Untergrundökonomie.
## Aufschrei der Empörung
„Soll ich dir die zweite Panzerdivision schicken?“, habe sie der
Innenminister, ihr sozialistischer Parteikollege Manuel Valls, am Telefon
spitz und spöttisch gefragt. „Die Provokation ist mir jedenfalls gelungen,
und das war natürlich auch der Zweck der Übung“, gesteht Samia Ghali mit
unverhohlener Genugtuung.
Seit ihrem Aufschrei der Empörung wird die 44-jährige Frau mit algerischen
Wurzeln zu Talkshows und Interviews eingeladen. Viele Bewohner der
betroffenen Quartiere befürworten ihren Vorschlag. „Trotzdem, wir sind
nicht in Chicago“, relativiert Aurélie Masset, eine Vereinsverantwortliche
aus dem Quartier Bassens, wo auch ihre Freundin Ghali aufgewachsen ist.
Statt der Armee bekommt Marseille vorerst „nur“ 205 zusätzliche
Ordnungshüter und einen neuen Polizeichef. Doch dabei soll es nicht
bleiben, verspricht Premierminister Jean-Marc Ayrault bei seinem Besuch in
Marseille am 10. und 11. September. Die Schülerinnen und Schüler warten
draußen vor der „Ecole de la deuxième chance“ („Schule der zweiten Chan…
auf den hohen Besuch. Einige haben zu diesem außergewöhnlichen Anlass ihre
„Sonntagskleider“ angezogen. Jeden Tag kommt es ja nicht vor, dass junge
Menschen wie sie den Premierminister persönlich treffen.
## Unliebsame Pflichtübung
Am Horizont hinter der Grünanlage des Schulgeländes sind die Hochhausblöcke
mit Satellitenschüsseln der „Résidence Campagne Lévêque“ zu erkennen. D…
ist eine dieser Siedlungen mit wohlklingenden Namen, wo die
Jugendarbeitslosigkeit mehr als 50 Prozent beträgt und die Polizei sich nur
in größeren Verbänden vorwagt. In dieser „Residenz“ wohnt der 19-jährige
Schüler Sofiane B., der in Erwartung der Dinge mit seinem Kumpel auf einem
Mäuerchen sitzt. Unter seiner weißen Mütze grinst er schüchtern. Wie
„Monsieur“ – gemeint ist der Regierungschef – heiße, wisse er nicht,
bekennt er halb geniert, halb amüsiert.
Die Schule „E2C“ wirkt vor dieser Kulisse wie eine Oase. Sie gibt
ehemaligen Schulaussteigern zwischen 18 und 25, die sonst herumhängen und
auf die schiefe Bahn geraten könnten, die Möglichkeit, noch einmal einen
Einstieg ins Erwerbsleben zu schaffen. Dafür erhalten sie in Kursen
individuelle Unterstützung.
Auf die Frage, welchen Beruf er wählen wolle, antwortet Sofiane schnell:
„Schweißer“. Er verhehlt nicht, dass er wie die meisten seiner Kameraden
schon mit der Polizei zu tun gehabt hat. „Kleine Dummheiten halt. Ein
Motorrad geklaut. Nichts Schlimmes“, rückt der eher Wortkarge mit der
Sprache heraus. Es klingt wie auswendig gelernt, als er sagt, es sei doch
wohl gescheiter, Arbeit zu suchen.
Zusammen mit mehr als 20 anderen Schülern sitzt er kurz darauf in der mit
Blumen geschmückten Kantine, als Regierungschef Jean-Marc Ayrault mit einer
eindrucksvollen Eskorte aus Ministern, lokalen Abgeordneten,
Kommunalpolitikern und Bodyguards eintritt. Der Premierminister spricht von
einem „ungeheuren Potenzial, das nicht verschleudert werden darf“, er lobt
das Personal und die pädagogische Methode, welche den persönlichen
Werdegang und sozialen Kontext mit in Betracht ziehe. Ihm ist anzusehen,
dass er sich bei dieser Pflichtübung „Kontakt mit einfachen Jungbürgern“ …
seiner Haut nicht sehr wohlfühlt.
## Eine zweite Chance geben
Dabei machen es ihm zwei Schülerinnen leicht, die sich höflich vorstellen
und erzählen, wie sie dank der E2C ihr Vertrauen in die Zukunft
wiedergefunden hätten. Die selbstsicher auftretende 25-jährige Margérie
Farri sagt, dass sie die „zweite Chance“ genutzt habe, sie könne nach nur
sechs Monaten in der E2C eine Stelle in der Fischabteilung eines Kaufhauses
antreten.
Die 21-jährige Sabrina Mouna erzählt, dass sie wegen der Geburt ihres Sohns
die Schule abbrechen musste und dachte, damit sei für sie „alles zu Ende“.
Jetzt hofft sie, dank der Kurse Arbeit im Handelssektor zu finden. Aber
auch das wäre unmöglich, wenn ihr Kind nicht jetzt in der Krippe bleiben
könnte.
Aufmerksam hört Ayrault zu, stellt Zwischenfragen. Da meldet sich der
23-jährige Azzedine Djedaoua mit einer kritischen Anmerkung zu Wort. Das
sei ja alles schön und gut, aber er sei nun zum zweiten Mal an dieser
Schule und habe außer unbezahlten Praktika nichts in Aussicht.
Später schimpft er, diese Probejobs ohne Lohn seien „eine Form von
Sklaverei“. Er findet es nicht in Ordnung, dass er mit 23 noch bei seiner
Mutter wohnen muss und seinen Unterhalt nicht selbst bestreitet. Seine
Alterskameraden glauben, er verschwendet in der Schule seine Zeit, wo er
doch wie sie als Aufpasser oder kleiner Dealer Geld machen könnte.
Ayrault hatte zuvor gesagt, er sei „nach Marseille gekommen, um Menschen zu
treffen, die sich der Fatalität des Niedergangs widersetzen“. Die Stadt
solle ein zweite Chance kriegen. Auch Samia Ghali hat den Regierungschef
begleitet. Ihr Enthusiasmus hält sich in Grenzen. Sie befürchtet, dass sich
nach kurzem Medienrummel das Interesse an Marseille schnell wieder legen
könnte. Bis zum nächsten Opfer einer Abrechnung im Milieu der jungen
Dealer.
## Viele Alleinerziehende
Viel kritischer äußert sich Karima Berriche. Die 50-Jährige ist seit vielen
Jahren Leiterin des Sozialhilfezentrums „Agora“ im Quartier La Busserine,
das als erste „zone urbaine sensible“ Frankreichs längst zum sozialen
Notstandsgebiet erklärt worden ist. Berriche kennt alle Facetten der Misere
und die Geschichte der Häuserblocks, in denen rund 16.000 Menschen leben.
Ein Drittel der 3.900 Haushalte werden von alleinerziehenden Mütter
gemanagt.
Allein die Frage, ob die Eltern nicht wegen mangelnder Fürsorge
mitverantwortlich seien für die kriminellen Fehltritte ihrer Kinder, bringt
sie in Rage. Wer so rede, wisse überhaupt nichts über die Umstände.
Berriche hält eine vernichtende Rede über die Politik der letzten fünf
Jahre der Präsidentschaft Sarkozy, die die Lage drastisch verschlimmert
habe. Die Quartiere im Norden bräuchten nicht die Armee, sondern eine Art
„Marshallplan“ (sie korrigiert, sie liebe diesen Begriff nicht), um einen
„Rückstand von dreißig Jahren“ aufzuholen.
Vielleicht hätte Regierungschef Ayrault auch sie besuchen sollen. Er hätte
dabei ein weniger erbauliches Bild von Marseille vorgefunden, das hier mehr
einem Indianerreservat gleicht. Von diesem Teil des 14. Bezirks führt keine
Bus-, Straßenbahn- oder Metrolinie ins Zentrum Marseilles. Von Zeit zu Zeit
hält ein Zug aus Aix-en-Provence. An der Haltestelle ist der Ticketautomat
kaputt.
„Es nützt sowieso nichts, einen Fahrschein zu kaufen, weil man ihn nicht
entwerten kann“, sagt ein Mädchen im Vorbeigehen. „Und wenn du kontrolliert
wirst, musst du mit einem nicht entwerteten Fahrschein trotzdem Bußgeld
zahlen“. Ein älterer Mann sagt, darum bezahle er auch nicht. Aber es sei
doch ein Jammer, dass junge Menschen das Wenige zerstörten, was an
öffentlicher Infrastruktur überhaupt noch vorhanden sei.
18 Sep 2012
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
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Reiseland Frankreich
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