| # taz.de -- Europas Kulturhauptstadt Marseille: Kunst, Raub, Morde | |
| > Marseille wurde eine oberflächliche Renovierung gegönnt. Die Bewohner der | |
| > ältesten Stadt Frankreichs klagen aber über steigende Preise und Gewalt. | |
| Bild: Romantisch oder doch rau? Marseille im Sonnenschein. | |
| MARSEILLE taz | Ist Marseille die französische Hauptstadt des Verbrechens | |
| oder der Armut? Diese Frage stellte vor genau einem Jahr die Pariser | |
| Tageszeitung Libération. Denn, wie sie berichtete, die Hälfte der Haushalte | |
| dümpelten unterhalb der Besteuerungsgrenze vor sich hin, während | |
| Vergeltungsmorde in der Unterwelt und Raubüberfälle unter Einsatz von | |
| Gewalt fast täglich für negative Schlagzeilen sorgten. | |
| Nun aber, 2013, ist Marseille erst mal eins: die Kulturhauptstadt Europas. | |
| Ob dies zur allgemeinen Besserung ihrer Lage beiträgt? Das mit großem Pomp | |
| angekündigte Kulturereignis brachte jedenfalls im Juli 2013 über 26 Prozent | |
| mehr TouristInnen als im vorigen Jahr. Zu diesen gehörte auch ich. | |
| Als Erstes schaute ich mir den alten Hafen an, das Wahrzeichen von | |
| Marseille. 45 Millionen Euro soll die Stadt allein in seine Renovierung | |
| investiert haben. Von der angeblich unendlichen Baustelle ist fast nichts | |
| zu erahnen. Der alte Hafen ist jetzt neu. Neongrelle Tierstatuen aus | |
| Plastik schlängeln sich als Touristenattraktion entlang der | |
| fußgängerfreundlichen Promenade. | |
| Die wirkliche Attraktion ist die vom britischen Stararchitekten Norman | |
| Foster entworfene Ombrière – eine Dachstruktur aus rostfreiem Stahl, die | |
| Sonnenschutz spenden soll. Ihre rechteckige, 1.080 Quadratmeter große Decke | |
| ist komplett verspiegelt: Passanten laufen auf dem Kopf, das Meer wird zum | |
| Himmel. | |
| ## Mediterrane Wunderkammer | |
| Von hier aus sieht man am nördlichen Ende der Promenade den Umriss des neu | |
| eröffneten Museums der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers, kurz | |
| MuCEM, dessen Bau um die 170 Millionen Euro verschlungen haben soll. Aus | |
| der Ferne erinnert der schwarze, imposante Würfel an die Kaaba in Mekka. | |
| Mich, und zahlreiche BesucherInnen aus den USA, China, Deutschland und | |
| Italien, erwartet dort eine mediterrane Wunderkammer: Mittelalterliche | |
| Erdkugelmodelle treffen auf Eselsglocken aus den südlichen Alpen, | |
| hydraulische Maschinen aus Ägypten auf historische Schiffsgemälde. Ein | |
| Stockwerk höher eröffnet die von Thierry Fabre kuratierte | |
| Wechselausstellung „Bleu Noir“ mit Joan Mirós monochrom strahlendem Gemäl… | |
| „Blau II“ und Goyas düsteren Radierungen „Los Caprichos“ (Launen). Die | |
| Gegenüberstellung dient als Sinnbild für das Verhältnis von Zivilisation | |
| und Barbarei, den Lumières und ihren Schattenseiten. | |
| Weiter führt der ambitionierte Parcours durch Arbeiten von KünstlerInnen | |
| aus beiden Seiten des Mittelmeers und streift dabei ebenso Napoleons | |
| Kolonialeroberungen und die Unabhängigkeitskriege wie auch den ethnischen | |
| Konflikt im Exjugoslawien und die arabischen Revolutionen, bis hin zu einer | |
| Sektion „Bleu tourisme, Noir mafia“: Fotografien der Mafiamorde in Sizilien | |
| an der einen Wand, Bilder der Auswirkungen des Massentourismus an der | |
| anderen. | |
| Kein Aspekt, keine Konfrontation, sei er noch so ungemütlich, wird hier | |
| ausgelassen. Die Ausstellung will einen Dialog schaffen. Durch die schmale | |
| Übergangsbrücke, die schwindelerregende 25 Meter über dem Hafenbecken in | |
| den Fort führt, verlasse ich das MuCEM. Nach all dem beeindruckenden | |
| Kulturaufgebot will ich endlich die Stadt erkunden. Aber es ist viel zu | |
| heiß. | |
| Also rufe ich Louise an, eine Freundin aus der Bretagne, die schon seit | |
| zehn Jahren in Marseille wohnt. „Kannst du mir einen Strand empfehlen?“ | |
| „Der von den Catalans ist gleich in deiner Nähe“, antwortet sie prompt. | |
| „Kürzlich wurde dort ein Polizist angegriffen, was mit dem Einsatz von | |
| Tränengas endete, aber an sich ist der Strand sicher.“ Also nichts wie hin. | |
| Der Strand entpuppt sich als Riesenaschenbecher im Hochsicherheitstrakt. | |
| Ansonsten ist er aber super okay. Dichtes Geplätscher im glasklaren Wasser, | |
| untermalt von ständigen Durchsagen einer freundlichen Lautsprecherstimme: | |
| „Ballspiele und der Konsum von Alkohol sind am Strand verboten. Haschisch | |
| rauchen auch“. Später dann der fast väterliche Zusatz: „Die Badegäste | |
| werden aktuell gebeten, auf ihre persönlichen Sachen zu achten. Und an euch | |
| Taschendiebe: Kommt lieber gleich zu mir, bevor ich zu euch komme!“ | |
| Ein wenig erfrischt setze ich mich in die nächste Bar und bestelle die | |
| lokale Spezialität: Pastis. Um mich herum nur Stammgäste. Ihr einheitliches | |
| Thema: Lästern über den neuen alten Hafen. Anscheinend wurden die | |
| ursprünglichen Bodenplatten aus dem schönen Stein von Cassis mit beliebigem | |
| Material ersetzt. „Das sieht jetzt aus wie überall“, meint einer. „Zum | |
| Schweißen der Ombrière hat die Stadtverwaltung luxemburgische Stahlarbeiter | |
| beschäftigt,“ ergänzt ein anderer, „als ob es hier nicht genug gute | |
| Schweißer gäbe, die einen Job suchen.“ | |
| ## Der Zoo ist alles andere als verwildert | |
| Am Nachmittag durchquere ich den basarartigen Markt der Capucins. Berge von | |
| Fisch, frisches Gemüse, Obst und orientalische Patisserien stapeln sich auf | |
| spartanisch zusammengeflickten Tischplatten und wackeligen Böcken. Die | |
| HändlerInnen schauen müde ins Leere. Vielleicht weil gerade Ramadan ist. | |
| Oder einfach nur wegen der Hitze. Behutsam schlendere ich bis zum Parc | |
| Longchamp. Dahinter soll es einen ehemaligen, seit 1987 verwilderten Zoo | |
| geben. Die Tiere sind zwar weg, aber die alten, malerischen Käfige und | |
| Vogelhäuser sollen bis heute erhalten geblieben sein. | |
| Verwahrlost ist hier allerdings nichts mehr: Alles neu, es gibt ein Café | |
| mit Musikberieselung, und in den renovierten Käfigen wurden dieselben | |
| scheußlichen Neonplastiktiere wie am Hafen drapiert. Seit März nennt sich | |
| das Ganze nun „Funny Zoo“, und wie man auf unzähligen Schildern erfährt: | |
| „Das Klettern auf den Tieren ist nicht gestattet“. | |
| Abends treffe ich Louise und ihre Freunde auf einer Dachterrasse. „Die | |
| Tiere sind panne“, bestätigt Romuald. Aber dass die Sommerkonzerte im Parc | |
| Lonchamp nun 30 Euro Eintritt kosten, findet er noch schlimmer: „Die | |
| Marseiller sind doch arm.“ | |
| Zum Thema Kulturhauptstadt bekomme ich ausschließlich deprimierende | |
| Ansichten serviert: Louise, freie Fotografin, hatte von der Stadt zunächst | |
| den Auftrag bekommen, ihr Wohnviertel abzulichten. Doch der wurde in | |
| letzter Minute ersatzlos gestrichen. Kiki, die für einen Kulturverein | |
| arbeitet, berichtet ihrerseits: „Anstatt die vielen wohltätigen Vereine in | |
| das Projekt einzubinden, wurden sie gezielt behindert.“ | |
| Plötzlich habe es eine Welle von Sicherheits- und Hygienekontrollen | |
| gegeben. „Eine schöne Säuberungsarbeit“, ironisiert sie. „Die Touristen | |
| sollen die Stadt positiv in Erinnerung behalten, aber die, die hier leben, | |
| haben nichts davon.“ Louise ergänzt aber: „Doch! Die Fans von Olympique | |
| Marseille.“ Dem Fußballverein wurde ein sündhaft teures Stadiondach | |
| spendiert. „Das hilft aber eher dem Bauunternehmer als den Fans, denn in | |
| Marseille regnet es doch sowieso nie“, kontert Kiki. | |
| ## Fürsorge im Nobelviertel | |
| Langsam wird es etwas kühler, und von der Terrasse aus beobachten wir, wie | |
| ein Bus des städtischen Hilfswerks eine kleine Gruppe von Menschen mit | |
| kostenlosen Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Ein seltsamer Anblick, | |
| vor allem weil die umliegenden Häuser wie ein frisch erbautes, unbewohntes | |
| Nobelensemble anmuten. „Die ganze Gegend wird seit ein paar Jahren von | |
| privaten Investoren gekauft und teuer saniert. Fast alles steht leer, die | |
| meisten alten Mieter können es sich nicht mehr leisten, hier zu wohnen“, | |
| erklärt Pierre. | |
| Nach 13 Jahren in Marseille hat auch Romuald genug und will ins heimatliche | |
| Elsass zurück, um dort eine Buchhandlung zu eröffnen. Louise versteht ihre | |
| anfängliche, sozialromantische Verklärung von Marseilles Armut auch nicht | |
| mehr und will ebenfalls weg. „Geben Sie mir deine Tasche, Madame“, | |
| überrumpelte sie zuletzt ein zwölfjähriges Kind mit gezücktem | |
| Teppichmesser. „Was soll man auch von einer Kulturhauptstadt halten, die ab | |
| dem frühen Abend alle Busverbindungen aus den ärmeren Vierteln im Norden | |
| streicht, damit’s im Zentrum sicher bleibt?“ | |
| Kaum zurück in Deutschland holen mich erschütternde Nachrichten aus | |
| Marseille ein: Auf dem Weg zum Hauptbahnhof wurde einem 22-Jährigen die | |
| Kehle mit einer Glasscherbe durchschnitten. Eine Woche später wird ein | |
| 18-Jähriger beim Verlassen einer Diskothek mit Messerstichen attackiert. | |
| Und diesen Montag wurde ein 25-jähriger Drogendealer im Stil einer | |
| Hinrichtung auf offener Straße erschossen. Das ist der 13. Mord in | |
| Marseille im verheißungsvollen Jahr 2013. | |
| Prompt schaltet sich die Regierung in Paris ein und verbreitet Aktionismus: | |
| Premierminister Jean-Marc Ayrault, gefolgt von fünf Ministern, besuchte am | |
| Dienstag persönlich Marseille und versprach sofortige polizeiliche | |
| Verstärkung. 24 Sonderermittler und eine Einheit der nationalen | |
| Bereitschaftspolizei CRS sollen helfen, die seit Langem anhaltende | |
| Mordserie in der Unterwelt zu beenden. Libération begrüßt die Maßnahmen, | |
| zeigt sich aber skeptisch: „Der Ehrlichkeit halber wäre zu sagen, dass das | |
| nicht ausreichen wird, um die mörderische Spirale unter Kontrolle zu | |
| bringen. Die Antwort auf die Gewalt muss umfassend sein, wirtschaftlich und | |
| sozial, auf Dauer angelegt.“ | |
| Etwas hoffnungsfroher, wenn auch kleinlaut, sieht es Le Figaro: „Trotz der | |
| Gewalttaten bleibt Marseilles touristische Ambition intakt“. | |
| 24 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Elise Graton | |
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