| # taz.de -- Neues Buch über Marseille: Rebellische Perle am Mittelmeer | |
| > Frankreichs wichtigste Hafenstadt soll ein neues Image bekommen – ein | |
| > seichteres, businessbetontes. Autor Günter Liehrs bezweifelt, dass das | |
| > klappt. | |
| Bild: Total idyllisch: Blick auf die Sainte-Marie-Majeure-Basilika. | |
| Euroméditerranée heißt das Projekt, das Marseille ins 21. Jahrhundert | |
| versetzen soll. Mediterrane Dienstleistungsmetropole statt rebellische, | |
| unsichere Hafenstadt lautet die Devise hinter dem Milliardenkonzept. Neuen | |
| Glanz soll es für die Hafenstadt bringen, und so müssen Lagerhäuser | |
| modernen Bürotürmen weichen. Der Visitenkarte der Stadt hat man ein | |
| kubisches Museum und einen blauen Turm zugefügt und Château D’if und | |
| Notre-Dame de la Garde ein wenig in den Hintergrund gedrängt. Verdrängung | |
| und Erneuerung geben nun auch in Marseille, wo die Uhren so lange anders | |
| tickten, den Ton an. | |
| Aber ob der Bauwahn die Identität der so gern als Ganovenhochburg | |
| deklarierten Stadt auf den Kopf drehen wird, wagt Günter Liehr zu | |
| bezweifeln. Marseille ist nicht mit normalen Maßstäben zu messen, so | |
| schreibt der langjährige Redakteur von Radio France in seinem „Porträt | |
| einer widerspenstigen Stadt“. Deren jüngere Geschichte lässt Liehr, der in | |
| Marseille und Paris lebt, Revue passieren. | |
| Die ist geprägt vom Widerstand gegen die Vorherrschaft von Paris. In der | |
| ältesten Stadt Frankreichs lässt man sich ungern etwas vorschreiben, | |
| rebelliert gern gegen die Großaristokratie und Großbourgeoisie, die in der | |
| Hauptstadt den Ton angibt, und blickt eher gen Orient als nach Paris. | |
| Folgerichtig fungiert Marseille seit Jahrhunderten als Tor zum Orient und | |
| gleichzeitig als Tor nach Europa. | |
| Migration ist Teil der Geschichte und Identität der Stadt. Erster | |
| Anlaufpunkt für die Einwanderer waren die verwinkelten Viertel rund um den | |
| alten Hafen. Zu den Ersten, die kamen, gehörten die italienischen Arbeiter | |
| aus Apulien, dem Piemont und der Toskana Ende des 19. Jahrhunderts. Die | |
| machten sich in Marseille zu Beginn wenig Freunde, da sie zu Dumpinglöhnen | |
| arbeiteten und sich als Streikbrecher einsetzen ließen. Unmut unter den | |
| französischen Arbeiter und gewaltsame Übergriffe waren die Konsequenz. „Les | |
| Babis“, wie die Italiener abwertend genannt wurden, wurden jedoch wenig | |
| später erfolgreich in die Gewerkschaften integriert und standen fortan bei | |
| Streiks und Arbeitskämpfen oft in der ersten Reihe. | |
| ## Warenhandel im Wandel | |
| Integration von Zuwanderern, die in den berühmten Seifenfabriken, der | |
| Ziegelproduktion, den Salinen oder den Raffinerien schufteten, wurde zu | |
| einem Kennzeichen Marseilles. Die Stadt, die um 1870 von der Veredelung | |
| importierter Rohstoffe lebte und gern zum Freihafen geworden wäre, vollzog | |
| alsbald einen kolonialen Schwenk. | |
| Statt Getreide und Ölsaaten waren es Kautschuk, Tee und Gewürze, die über | |
| Marseille importiert und gehandelt wurden. Mit den Rohstoffen kamen auch | |
| die Menschen, erst aus dem Orient, dann auch mehr und mehr aus den Kolonien | |
| der „Grande Nation“, die bis weit in die 1960er Jahre als | |
| Arbeitskräftereservoir dienten. | |
| Mit der Zuwanderung veränderte sich auch das Bild in den Gassen der | |
| Altstadt, ob in Le Panier, dem korsischen Viertel, oder dem Quartier | |
| Belsunce, wo nordafrikanische Einflüsse dominieren. Beide Viertel stehen | |
| heute im Fokus des Wandels. | |
| Ob der allerdings so einfach vonstatten gehen wird, wie die Planer | |
| kalkulieren, daran hat Liehr so seine Zweifel. Er verweist am Ende seiner | |
| fundierten Stadtgeschichte auf die Bürgerbewegung „Ein Stadtzentrum für | |
| alle“. Die hat recht erfolgreich gegen die Umwandlung der alten Prachtmeile | |
| Rue Impériale opponiert, und das Beispiel könnte sich auch andernorts | |
| wiederholen. | |
| 25 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Knut Henkel | |
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