| # taz.de -- Zwangsadoption in Spanien: Die Nonne und der Kindesraub | |
| > Jahrzehntelang wurden Neugeborene ihren Müttern entwendet und zur | |
| > Adoption freigegeben. María Luisa Torres fand ihr Kind nach 30 Jahren | |
| > wieder. | |
| Bild: Über Jahrzehnte hat ein Netzwerk aus katholischen Nonnen und Ärzten die… | |
| „29 Jahre“, stammelt María Luisa Torres. „Meine Tochter.“ Heulend schl… | |
| sie die jüngere Frau in ihre Arme. „Mama“, antwortet Pilar Alcade. Diese | |
| Szene spielte sich am 30. Juni 2011 live im Mittagsprogramm des | |
| Privatsenders Antena 3 ab. „Wenn ich die Aufnahmen sehe, bekomme ich noch | |
| immer weiche Knie“, sagt María Luisa Torres und strahlt übers ganze | |
| Gesicht. „Seit ihrer Geburt am 31. März 1982 hatte ich meine Tochter | |
| gesucht.“ | |
| Sheila sollte das Mädchen heißen, doch es wurde Pilar. Denn das Baby wurde | |
| der Mutter in einer Madrider Klinik weggenommen, gestohlen. María Luisa | |
| Torres zählt zu den schätzungsweise 300.000 Opfern eines verbrecherischen | |
| Netzwerkes aus Ärzten und Schwestern in Spanien, die während der | |
| Franco-Diktatur und in den ersten Jahren der Demokratie meist armen Frauen | |
| ihr Neugeborenes entwendet und an solvente kinderlose Familien in aller | |
| Welt verkauft haben. | |
| Wie dieses Netzwerk im Schatten der katholischen Kirche genau funktioniert | |
| hat, ist bisher nicht hinreichend geklärt. Die frisch entbundenen Frauen | |
| jedenfalls wurden oftmals belogen, ihr Kind sei tot geboren worden. Und die | |
| neuen Eltern ließen sich belügen, wenn man ihnen sagte, die Mutter habe | |
| Drogenprobleme oder gehe auf den Strich und habe ihren Säugling deshalb im | |
| Stich gelassen. Das zu zahlende Geld sei nur für die Kosten der Entbindung. | |
| ## Anzeige erstattet | |
| „Nie werde ich dieses Gesicht vergessen“, sagt María Luisa Torres heute. | |
| „Das Treffen mit der Nonne hat mein gesamtes Leben verändert.“ Torres hat | |
| als Erste gegen Schwester María Gómez Valbuena Anzeige erstattet. Die Nonne | |
| gilt als eine Drahtzieherin des Netzwerks. Über 1.000 Fälle wurden | |
| mittlerweile in ganz Spanien zur Anzeige gebracht. Das Justizministerium | |
| will eine Gendatenbank einrichten, um die juristische Aufarbeitung der | |
| Fälle zu erleichtern. | |
| Alles begann 1981. María Luisa Torres war gerade 24 Jahre alt, als ihre Ehe | |
| nach fünf Jahren scheiterte. Bald fand die Mutter einer kleinen Tochter mit | |
| Namen Inés einen neuen Freund und wurde ungewollt schwanger. „Er eröffnete | |
| mir, dass er eine andere Beziehung hat, und mich verlassen wird.“ | |
| Enttäuscht, hilflos blieb María Luisa Torres zurück. Doch eines war ihr | |
| klar: „Ich wollte das Kind haben.“ Doch wie, als alleinstehende Mutter im | |
| damals stockkonservativen, erzkatholischen Spanien? | |
| Eine Anzeige in einer Zeitschrift versprach Hilfe. Der Text stammte von | |
| Schwester María Gómez Valbuena. „Ich besuchte sie, als ich im fünften Monat | |
| war“, erinnert sich María Luisa Torres. Die Nonne schien helfen zu wollen | |
| und zu können. „Ruhig und mit angenehmer Stimme“ sprach sie von einem | |
| Kindergarten mit Übernachtungsmöglichkeiten, in dem die künftige Mutter ihr | |
| Kind die Woche über lassen könne, wenn sie arbeiten müsse. „Das war zwar | |
| mit Kosten verbunden, aber das schreckte mich nicht. Ich arbeite, seit ich | |
| 15 bin“, sagt María Luisa Torres. | |
| ## Renommiertes Krankenhaus | |
| Die Nonne hatte auch eine gute Geburtsklinik an der Hand – Santa Cristina | |
| in Madrid, das Krankenhaus der staatlichen Hebammenschule. Zum Schluss gab | |
| ihr die Nonne eine Visitenkarte. „Mit der sollte ich mich in der Klinik an | |
| einer kleinen, schwarzen Tür melden, wenn es so weit war.“ | |
| María Luisa Torres nippt nachdenklich an ihrem Kaffee. Die 55-Jährige hat | |
| einen ruhigen Tisch in einer Kneipe gegenüber dem Altenheim, wo sie heute | |
| als Pflegerin arbeitet, für das Treffen gewählt. Zu Hause empfange sie | |
| keine Medienvertreter mehr. „Ich will die Intimsphäre meiner anderen beiden | |
| Töchter wahren“, erklärt sie. Die Älteste, Inés, kam zwei Jahre vor Pilar | |
| auf die Welt; Marina sechs Jahre später, nachdem Torres zu ihrem ersten | |
| Ehemann zurückgekehrt war. | |
| „Als fünf Monate später die Wehen einsetzten, stieg ich mit meiner Mutter | |
| in ein Taxi“, nimmt sie den Gesprächsfaden wieder auf. „Es schneite, das | |
| werde ich nie vergessen.“ Schnell fand sie die kleine, schwarze Tür. Sie | |
| gehörte zu einem unscheinbaren Nebeneingang der Klinik Santa Cristina an | |
| der Calle O’Donnell, einer der Hauptverkehrsachsen im Stadtzentrum. | |
| Die Tür führte zu einer Treppe. „Meine Mutter musste unten bleiben. Mich | |
| brachten sie in einen großen Saal mit einem Dutzend Betten, in denen Frauen | |
| in den Wehen lagen.“ Heute weiß Torres, dass es ein eigens für soziale | |
| Problemfälle eingerichteter Kreißsaal war. Ihr wurde ein Bett zugewiesen. | |
| An viel mehr kann sie sich nicht erinnern. Sie wurde mit einer Gasmaske | |
| ruhiggestellt. Ab da sind nur vage Bilder geblieben, Schlaglichter wie aus | |
| einem Horrorfilm. | |
| ## „Das war mein Kind!“ | |
| Irgendjemand drückte María Luisa Torres ein Formular zum Unterschreiben in | |
| die Hand. Sie verstand irgendwas von Kostenübernahme. „Dann versetzten sie | |
| mich in Vollnarkose.“ Als sie wieder zu sich kam, stand Schwester María vor | |
| ihr. „ ’Und mein Kind?‘, wollte ich wissen.“ – „Was für ein Kind, … | |
| nichts“, kam die Antwort. „Ich erinnere mich, wie ich immer wieder | |
| nachfragte“, erzählt María Luisa Torres. Die Ausflüchte wurden von Mal zu | |
| Mal bizarrer. „Totgeburt.“ – „Ein Paar aus Frankreich hat das Baby | |
| adoptiert.“ – „Das ist besser so für dich. Was willst du als alleinstehe… | |
| Mutter machen?“ – „Ich werde dir das Kind nicht geben.“ | |
| Die von Geburt und Narkose geschwächte Frau nahm all ihre Kräfte zusammen | |
| und stand auf. „Irgendwann stand ich vor einer Glasscheibe. Dahinter | |
| standen die Bettchen. Nur eines war belegt, darin lag ein Kind mit blauen | |
| Augen und hellem Haar. María stand auf einem Schildchen. Das war mein Kind. | |
| Mein Kind!“ Eine starke Hand packte sie am Arm und zwang sie zurück ins | |
| Bett. | |
| Nun änderte Schwester María ihre Taktik. „Ich zeige dich wegen | |
| außerehelicher Beziehungen an“, sagte sie. „Dann nehmen sie dir auch noch | |
| die andere Tochter weg.“ Eine Frau von schlechtem Ruf? Angst und Panik | |
| überfiel María Luisa Torres angesichts der Drohung, auch noch Inés zu | |
| verlieren. Die junge Frau brach in sich zusammen. | |
| ## Die Scheidung war gerade erst möglich | |
| Es war Spanien, Anfang der 1980er Jahre. Die Demokratie behauptete sich | |
| mühsam gegen die Strukturen der Diktatur. Das Recht auf Scheidung war in | |
| Kraft getreten, doch viele andere Gesetze, die Frauen entmündigten, waren | |
| noch gültig. Vor allem die Mentalität der Menschen änderte sich nur | |
| langsam. „Neun Tage später verließ ich die Klinik mit dem leeren | |
| Wollsäckchen, das ich für das Baby mitgebracht hatte. Mir kam ein Paar mit | |
| einem rosa Babykörbchen entgegen. Ich habe immer geglaubt, dass die mein | |
| Kind abgeholt haben.“ | |
| „Die Angst hielt lange an“, sagt Torres überraschend gefasst. Dutzende Male | |
| hat sie ihre Geschichte bereits erzählt. Auf jede Nachfrage hat sie die | |
| passende Antwort parat. Möglichst nicht an alte Wunden rühren. All die | |
| Jahre hatte sie nur wenige Angehörige und Freunde eingeweiht. „Kein Tag | |
| verging, an dem ich nicht an Sheila dachte. Ich schaute jedem Mädchen | |
| hinterher, das ungefähr ihr Alter hatte, in der Hoffnung, sie zu finden.“ | |
| Die Suche nach Sheila begann, als Tochter Inés volljährig wurde. Irgendwann | |
| hatte sie María Luisa Torres eingeweiht. Gemeinsam suchten sie in Archiven, | |
| im Register und in der Klinik. Aber es war einer dieser Zufälle in einer | |
| vernetzten Welt, der Mutter und Tochter zusammenführte. Inés | |
| veröffentlichte vor drei Jahren einen Artikel über das Schicksal ihrer | |
| Mutter in einer großen Tageszeitung. Torres selbst war mittlerweile einer | |
| Vereinigung von Kindesraubopfern beigetreten. „Ich hatte immer gedacht, ich | |
| sei ein Einzelfall. Und plötzlich merkte ich, dass es viele Frauen mit dem | |
| gleichen Schicksal gab“, erklärt Torres. Auf der Facebookseite | |
| veröffentlichte sie alles, was sie über die verlorene Tochter beisteuern | |
| konnte. Geburtsdatum, Klinik, Allergien und andere Merkmale, die sich in | |
| ihrer Familie von Generation zu Generation weitervererben. | |
| ## Gewissheit per DNA-Test | |
| Eine Redakteurin des Nachmittagsprogramms bei Antena 3 stieß auf den | |
| Artikel und erinnerte sich an den Fall einer jungen Frau, die nach der | |
| Scheidung ihrer Adoptiveltern live im Fernsehen ihre leibliche Mutter | |
| gesucht hatte. Viele Angaben stimmten überein. Ein DNA-Test brachte | |
| Gewissheit. | |
| „Ich habe immer geglaubt, dass Sheila ganz nahe ist“, erklärt María Luisa | |
| Torres. Tatsächlich lebte die Tochter die ganzen Jahre nur 30 Kilometer | |
| entfernt. „Mutterinstinkt“, fügt Torres glücklich hinzu. Aus einer Mappe | |
| kramt sie Fotos. Sie zeigen Pilar in verschiedenen Lebensabschnitten; wie | |
| sie spielt, wie sie vor der Kamera posiert, wie sie den Urlaub mit ihrer | |
| Adoptivfamilie genießt. Bilder einer Kindheit und Jugend, die Torres nicht | |
| miterleben durfte. „Heute sehe ich sie fast jedes Wochenende“, sagt María | |
| Luisa Torres. Pilar sei auf der Suche nach Normalität. „Deshalb redet sie | |
| nicht mehr mit der Presse.“ Für Torres selbst ist das anders. Für sie ist | |
| der Kampf um Gerechtigkeit zur Therapie geworden. | |
| Doch Gerechtigkeit ist den beiden Frauen bis heute nicht widerfahren. | |
| Schwester María verstarb im Januar 2013 im Alter von 87 Jahren. „Ich habe | |
| jede Nacht gebetet, dass sie nicht stirbt“, sagt Torres. Immer wenn sie auf | |
| die Nonne zu sprechen kommt, durchbrechen Wut und Trauer ihre | |
| Gesprächsroutine. „Sie war ein schlechter Mensch, bis zum Schluss.“ Als der | |
| zuständige Richter das Verfahren einstellen wollte, legte sie Widerspruch | |
| ein. María Luisa Torres und Pilar Alcalde werden ihre Anzeige jetzt auf | |
| weitere ehemalige Bedienstete der Klinik ausweiten. | |
| 22 Apr 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
| ## TAGS | |
| Spanien | |
| Katholische Kirche | |
| Mariano Rajoy | |
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