# taz.de -- Kapitalistisches Rauschsystem im Buch: Kein richtiges Leben in Flas… | |
> Waren die Menschen schon mal so drauf wie heute? Zwei Bücher beschäftigen | |
> sich mit Saufen, Zwängen und revolutionärem Dandytum. | |
Bild: Ist ein Rausch nichts weiter als eine Überreizung unseres Nervensystems? | |
Eskapismus war gestern. Der heutige Rausch ist einer, der einem durch den | |
Alltag hilft. Den man sucht, um zu funktionieren. Ja, natürlich auch noch, | |
um Spaß zu haben. Doch auch der Exzess ist mittlerweile fester Bestandteil | |
einer Work-Life-Balance: „Samstag ist der neue Montag“, titelte die linke | |
[1][Zeitschrift Phase 2] in ihrer vergangenen Themen-Ausgabe über die | |
gesellschaftliche Funktion von Drogen und Rausch. | |
Selbst drei Tage langes Abzappeln im Club diene demnach nur noch der | |
Aktivierung der müden Glieder und werde zur notwendigen Kompensation für | |
die restliche Woche. Und die Phase 2 muss es ja wissen, versteht sie sich | |
doch selbst als „Zeitschrift gegen die Realität“. Selbst der Rausch scheint | |
dieser nicht mehr zu entkommen. | |
Zwei Bücher rufen jetzt noch einmal zum Kampf gegen die kapitalistische | |
Ernüchterung und suchen nach einem kritischen Potenzial im Rausch. [2][“Das | |
Ende der Enthaltsamkeit“] heißt das eine. Es versammelt Anekdoten und | |
kleine Geschichten von mehr oder weniger links stehenden Autoren zum | |
Verhältnis von Alkoholrausch und Revolution. | |
[3][“Leben im Rausch. Evolution, Geschichte, Aufstand“] heißt das andere: | |
In ihm möchte Daniel Kulla, „intellektueller Arm von Egotronic“, via Rausch | |
eine Abkürzung zum Aufstand legen, so wie er sie in einigen radikalen | |
Ausläufern der Protestbewegungen der 1960er Jahre ausmacht. | |
Starten wir mit dem Alkohol. „Das Ende der Enthaltsamkeit“, Untertitel: | |
„Über Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des | |
Niedergangs“. Die „7 Zirkel des Golem“ steht darüber, und aus ebenjenem | |
Hamburger Club „Golem“ sind auch ein paar Cocktailrezepte dabei. Immerhin: | |
Sieben Kreise waren es auch, die in dem Text „Der kommende Aufstand“ | |
durchschritten werden mussten. Hier werden sie durchtrunken. | |
## Imperialistisches Bier | |
Im ersten Zirkel widmet sich Georg Seeßlen zunächst der imperialistischen | |
Natur des Bieres über den Dialog zweier Trinker: „Die Herrschaft des Bieres | |
will total werden“, weiß der eine von ihnen, „weshalb ein Bierzelt auch der | |
geeignete Ort für andere totale Empfindungen sein mag. Man ist, zum | |
Beispiel, total gut drauf oder aber total gegen Ausländer, Weiber und | |
Benzinpreiserhöhungen.“ Der erste Schluss liegt nahe: wahrscheinlich gibt | |
es keinen stumpferen Rausch als den des Bieres. | |
Auch in den höheren Trink-Zirkeln, beim Wein, Gin oder Whiskey, hält sich | |
der Eindruck, dass es kein richtiges Leben in Flaschen geben kann. Der | |
Alkohol kann zwar angenehmes Begleitgetränk bei der Vorbereitung geplanter | |
Umtriebe sein, sonst besorgt er aber eher die flächendeckende Betäubung der | |
Arbeiter. Das gilt auch für den 7. Zirkel, den Wodka. Und das, obwohl | |
immerhin Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza den Wodka Martini zuvor | |
als den einzigen Cocktail gepriesen hat, den die Welt braucht. | |
So sollten sich zaristische Agenten im vorrevolutionären Russland stets an | |
die Spitze von spontanen Aufstände stellen und sie in Richtung ds nächsten | |
Schnapsladens lenken: Ein paar Flaschen später zerstreute sich die | |
Versammlung oder die anrückenden Polizei hatte leichtes Spiel. | |
So versammelt der Band schöne Anekdoten und Geschichten. Eher nüchtern | |
beurteilen diese aber die Möglichkeiten, den Zwängen des Alltags zu | |
entkommen. Auch die im Untertitel angekündigte „Schönheit des Niedergangs“ | |
hat im Grunde wenig Subversives. Sie blieb lange Zeit ausschließlich | |
Männern vorbehalten. Sie sind die öffentlichen Trunkenbolde, die tragischen | |
Helden, die Bohemiens. Sie können sich gehen lassen, weil sie die | |
gesellschaftlich anerkannte Arbeit leisten, während die Frau zur Hausarbeit | |
und zur Unsichtbarkeit verdammt ist, wie die Medientheoretikerin Kerstin | |
Stakemeier schreibt. | |
## Der weibliche Dandy | |
„Bier, Wein und Whiskey gegen Klosterfrau Melissengeist, Likör und Brandy“ | |
– so laute die Getränkeverteilung der Geschlechter. Lediglich der weibliche | |
Dandy, die exzessive Frau, findet ein emanzipatorisches Moment im Alkohol: | |
indem sie sich der männlichen Domäne der lustvollen Selbstzerstörung | |
hingibt. Um nachhaltig gesellschaftlich Hierarchien zu zersetzen, bräuchte | |
es einen anderen Rausch als den Suff – einen Lust- und Erkenntnisrausch. | |
Doch der hat gegen den herrschenden Betäubungs- und Leistungsrausch kaum | |
mehr eine Chance, meint auch Daniel Kulla. | |
Zu festgefahren ist das kapitalistische Rauschsystem aus Adrenalin, | |
Aufputschmitteln oder Speed zum Hochkommen und Alkohol, Beruhigungsmitteln | |
und Opiaten zum Runterkommen. Was fehlt, sei der psychedelische Rausch, der | |
in den sechziger Jahren ein „Brandbeschleuniger“ der Massenbewegungen | |
gewesen sei, der Schwarzen, Frauen und Studenten. Ebenso könnte er heute, | |
da sich viele eine andere Welt nicht einmal mehr vorstellen können, wieder | |
zur Initialzündung und Motor des kommenden Aufstands werden, meint Kulla | |
und versucht sich an einer materialistischen Theorie des Rauschs, jenseits | |
des mystischen LSD-Kitsches. | |
Ein „Rausch“ ist demnach nichts weiter als eine Überreizung unseres | |
Nervensystem. Normalerweise dekodiert unser Gehirn die einprasselnden Reize | |
in einen beschaulichen Echtzeitfilm. Im Rauschzustand kommt es zu | |
Verzerrungen – Tastsinn, Akustik, Visuelles, Gedächtnis, Kreislauf laufen | |
asynchron. | |
## Einfach nur dysfunktional? | |
Was sich schwindelig anhört, ist ein Lernprozess des Gehirns: Wenn sein | |
Standardprogramm nicht mehr ausreicht, schaltet es weitere Wahrnehmungs- | |
und Bedeutungsebenen und Erinnerungen hinzu und versucht diese neu zu | |
kombinieren, ähnlich wie im Traum, in dem das Gehirn Erlebtes assoziativ | |
mit alten Erfahrungen und Imaginärem verbindet. | |
Zu solch „verdichteten Momenten“, wie sie Kulla nennt, kommt es auch beim | |
psychedelischen Rausch. Er führt zu einer erhöhten Nervenempfindlichkeit | |
und gleicht so einem evolutionären Fortschrittsmotor in unserem Kopf, lässt | |
neue Verknüpfungen und Problemlösungen zu. | |
Die Aufgabe des Rauschs im materialistischen Sinn sei, so Kulla, die der | |
Ideologiekritik: erkennen, dass es keine religiösen Erfahrungen jenseits | |
unseres Gehirns gibt, die Kluft zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu | |
erkennen und Anstöße liefern, sie praktisch zu überbrücken. Das ist eine | |
ganze Menge für eine bloße Dysfunktionalität im Gehirn. Das weiß auch Kulla | |
und stellt ihm auf dem Weg zum Aufstand die Werke von Marx und Engels zur | |
Seite. | |
Denn der Rausch kennt kein politisches Programm, er ist immer Kind seiner | |
Zeit. Kullas Buch ist dort am besten, wo es zeigt, wie jener spielerische, | |
lustvolle, psychedelische Rausch der sechziger Jahre mit dem „Krieg gegen | |
die Drogen“ nahezu erstickt wurde. Und wie er heute fast gänzlich dem | |
Diktat der Alltags-Optimierung und der bloßen Betäubung weichen musste. So | |
lässt sich an den gängigen Formen des Rauschs auch ablesen, woran es heute | |
zu einem kritischen Bewusstsein am meisten fehlt: an erhöhter Sensibilität | |
und Einfühlung. Es fehlen die Lockerungsübungen für das Ich. | |
Anselm Lenz und Alvaro Rodrigo Piña Otey (Hg.): „Das Ende der Ent- | |
haltsamkeit. Über Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des | |
Niedergangs“. Edition Nautilus, Hamburg 2013, 192 Seiten, 19,90 Euro. | |
Daniel Kulla: „Leben im Rausch. Evolution, Geschichte, Aufstand“. Grüne | |
Kraft, Löhrbach 2012, 287 Seiten, 19,80 Euro. | |
24 Apr 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://phase2.nadir.org/ | |
[2] http://www.edition-nautilus.de/programm/belletristik/buch-978-3-89401-774-3… | |
[3] http://www.ventil-verlag.de/titel/1586/leben-im-rausch | |
## AUTOREN | |
Sebastian Dörfler | |
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