# taz.de -- Arthur-Cravan-Lesung: Keine Pose vor dem Spiegel | |
> Der Nautilus-Verlag und Thalia-Schauspieler Jörg Pohl halten das Erbe | |
> eines anarchistischen Poeten, Boxers und Provokateurs der Belle-Époque | |
> aufrecht. | |
Bild: Mit Dandytum vertraut: Thalia-Schauspieler Jörg Pohl. | |
„Man braucht keine große Übung im Denken, um sich klarzumachen, dass jedes | |
Mal, wenn ein schöner Mensch gezwungen ist, materiell zu arbeiten, es die | |
Gesellschaft ist, die unmoralisch ist.“ | |
HAMBURG taz | Der Mann, der diesen wunderbaren Satz gesagt hat, ist der im | |
kulturellen Gedächtnis durch und durch vernachlässigte Arthur Cravan, Poet, | |
Boxer und gnadenloser Provokateur im Paris der Belle-Époque. Der 1887 im | |
schweizerischen Lausanne als Fabian Avenarius Lloyd geborene Neffe von | |
Oscar Wilde gilt als Vorläufer des Dadaismus, des Surrealismus und des | |
Situationismus. Und außerdem als Vertreter eines rigiden Individualismus: | |
Seine Ein-Mann-Kunstzeitung Maintenant verkaufte er auf einem Gemüsekarren, | |
scheute keine Gelegenheit zur verbalen und tätlichen Auseinandersetzung und | |
verschwand 1918 in Mexiko. Vier Jahre zuvor war er vor dem ersten Weltkrieg | |
desertiert und nach einer Flucht quer durch Europa in die USA emigriert. | |
Abgesehen von seiner Zeitung gibt es keine Anthologie, keinen Roman oder | |
systematische Veröffentlichungen von Cravan. Der Nautilus-Verlag brachte | |
1978 unter dem Titel „König der verkrachten Existenzen“ eine Sammlung mit | |
den Maintenant-Ausgaben und Briefen an Verwandte und vor allem an seine | |
große Liebe, die futuristische feministische Dichterin Mina Loy, heraus. | |
Zur dritten Auflage 2015 fragte Verlagsleiterin Hanna Mittelstädt | |
Thalia-Schauspieler Jörg Pohl, ob er nicht Interesse hätte, zusammen mit | |
ihr und dem Ex-Mutter-Gitarrist HF Coltello eine Cravan-Lesung zu machen. | |
„Mittlerweile haben wir Lesungen in Hamburg, Berlin und Zürich gemacht, und | |
jetzt als Höhepunkt in Bad Bevensen“, sagt Pohl. | |
Obwohl er mit Dadaismus, Dandyismus und Punk vertraut ist, hatte der | |
37-Jährige vorher noch nichts von Cravan gelesen. Pohl gehört zu den | |
Hauptdarstellern des Thalia-Ensembles. Er spielt unter anderem den | |
blutrünstigen und skrupellosen König „Richard III.“ in der Inszenierung v… | |
Regie-Jungstar Antú Romero Nunes, ist als Estragon der Gegenpart zu Jens | |
Harzer in „Warten auf Godot“ unter der Regie von Psychedelic-Pop-Spezialist | |
Stefan Pucher oder in der Gaußstraße in der Bühnenfassung von Christian | |
Krachts „Imperium“ zu sehen. | |
Sieht man Pohl auf der Bühne, eine Mischung aus Clown und Punk, dem es bei | |
aller Ironie sehr ernst ist mit dem, was er da tut, wundert es nicht, dass | |
er sich für Cravan begeistert: „Diesen unbedingten Willen zur Provokation | |
fand ich von Anfang an beeindruckend“, sagt Pohl. „Damals hat sich | |
Provokation auch noch gegen die Spießergesellschaft gewendet und | |
herrschende Ordnungen angegriffen.“ Heute würde ja keine Avantgarde mehr | |
mit ihrer Kunst provozieren, sondern im Gegenteil übernähmen das die | |
Spießer, die an der Macht sind, mit ihren Tweets. | |
Die Konsequenz des 1,85-Hünen mit der Posterboy-Visage ist schuld daran, | |
dass Cravan nie so bekannt wurde wie Oscar Wilde oder ein Lord Byron, | |
vermutet Pohl: „Er hat es sich einfach mit zu vielen Leuten verscherzt. | |
Wenn man jede Gelegenheit ergreift, seine Widersacher mit Scheiße zu | |
beschmeißen, arriviert man einfach nicht. Das hatte er aber auch nie im | |
Sinn, glaube ich.“ | |
In einer der Cravan-Lesungen, die in der Galerie des Kunsthistorikers | |
Roberto Ohrt stattfand, projizierten Mittelstädt und Pohl Bilder auf eine | |
Leinwand, und Pohl las vor, welchen Unflat Cravan dazu veröffentlicht | |
hatte. Bei Marie Laurencin, Dichterin, Malerin und Muse Apollinaires, sah | |
das zum Beispiel so aus: „Das ist wieder eine, die es nötig hätte, dass man | |
ihr den Rock lüftet und einen großen … irgendwo reinsteckt, um sie zu | |
lehren, dass die Kunst keine kleine Pose vor dem Spiegel ist. Du prüdes | |
Lieschen! (Halt’s Maul!) […] Sie können, so oft Sie wollen, sagen, ich sei | |
ein Schwein – es stimmt doch alles.“ | |
Cravans Auftreten findet Pohl ebenso fragwürdig wie faszinierend: „Als | |
reflektierter Punker denkt man, eigentlich finde ich das uncool, aber es | |
hat einfach was. Und wenn man seine Briefe an Mina Loy liest, die ja eine | |
emanzipierte Frau war, spricht daraus zwar ein großes Selbstbewusstsein, | |
aber kein Machismus. Trotz seines salzsäurehaltigen Humors und der wütenden | |
Attacken ist Cravan auch ein großer Romantiker.“ | |
Cravan pflegte Kontakt zu den Anarchisten Félix Fénéon und Eugène Humbert, | |
Pohl hält Cravan aber eher für einen „antipolitischen Bauchanarchisten“, | |
der es aber immerhin zur Würdigung durch Leo Trotzki brachte: „Arthur | |
Cravan, ein Boxer und Gelegenheitsliterat, gab offen zu, dass er lieber die | |
Kiefer der Yankees in einem noblen sportlichen Kampf zerschmettern wollte, | |
als sich die Rippen von einem Deutschen kaputtschlagen zu lassen.“ Das ist | |
die einzige politische Message Cravans, die immerhin durch den russischen | |
Marxisten kolportiert worden ist. | |
Pohl trauert den Zeiten nach, in denen Kunst einen revolutionären Anspruch | |
hatte: „Der Spätkapitalismus hat ja nahezu alle Freiräume und auch | |
Widersprüche, in denen sich etwas wie eine Avantgarde entfalten konnte, | |
plattgemacht. Und auch die Möglichkeiten einer Lebensweise von Bohème zum | |
Beispiel, wo eine intellektuelle Randgruppe tagelang im Café rumgammeln | |
konnte und den nächsten Anschlag auf die bürgerliche Ordnung geplant hat.“ | |
Er selbst und die ganze Zunft von staatlich subventionierter | |
Kulturschaffenden würde heute wahrscheinlich auch zur Zielscheibe der | |
Denunziationen Cravans gehören, vermutet Pohl. „Aber wo soll man sich als | |
Künstler heutzutage noch verorten?“ Als Ensemblemitglied einer eben | |
staatlich subventionierten Kulturinstitution ist er trotz Zwangs zur | |
Lohnarbeit immerhin halbwegs abgeschottet von ökonomischen Zwängen. | |
„Paradoxerweise ist das Staatstheater eine Bastion relativer Freiheit, in | |
der sich die Leute nicht wie auf dem freien oder offenen Kunstmarkt | |
permanent selbst inszenieren und zur Ware machen müssen – zumindest nicht | |
in einem so obszönen Ausmaß“, sagt Pohl. | |
Doch auch in diesem Schutzraum sind die Künstler alles andere als | |
unterbeschäftigt – warum sich noch zusätzliche Arbeit machen? „Weil es | |
richtig ist und ohne den Druck, da jetzt unbedingt Geld und Fame | |
rauszuholen zu müssen. Ich bin ja festangestellt“, sagt Pohl. „Außerdem | |
finde ich es wichtig, die Erinnerung an solche Menschen aufrechtzuerhalten, | |
und deren Haltung zu beschwören, dass es eben mal etwas wie eine radikale | |
gesellschaftliche Opposition in der Kunst gegeben hat.“ | |
Interesse daran, Cravan auf der Bühne zu spielen, hat Jörg Pohl allerdings | |
nicht: „Der hat sich schon in Vollendung selber gespielt.“ Oder – um mit | |
Cravan selbst zu sprechen: „Es soll ein für alle Mal gesagt werden: Ich | |
will mich nicht zivilisieren.“ | |
4 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Hanna Klimpe | |
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