# taz.de -- Grünen-Parteitag in Berlin: Kretschmanns kalter Kampf | |
> Winfried Kretschmann provoziert seine Partei mit Kritik an der Politik | |
> der Steuererhöhung. Die Basis aber lässt ihn abblitzen. | |
Bild: „Wenn wir Kontroversen haben, tragen wir sie aus“: Winfried Kretschma… | |
BERLIN taz | Den entscheidenden Satz sagt Winfried Kretschmann schon nach | |
wenigen Minuten. Baden-Württembergs Ministerpräsident steht auf dem | |
grasgrünen Podest im Berliner Velodrom. Vor ihm 820 jubelnde Delegierte. | |
Einer von ihnen, erste Reihe, zehn Meter rechts vor Kretschmann, reißt die | |
Hände hoch, klatscht kräftig, nickt. | |
Es ist der Delegierte Jürgen Trittin. Der Spitzenkandidat und | |
Finanzfachmann der Grünen. Das ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig. | |
Kretschmann spricht gerade über die Finanz- und Steuerpolitik. „Wir haben“, | |
ruft er, „die richtige Balance auf diesem Parteitag gefunden.“ Und, eins | |
noch, das ist ihm wichtig: „Wenn wir Kontroversen haben, tragen wir sie | |
aus.“ Auch wenn das nicht immer taktisch klug sei, das habe er jetzt oft | |
hören müssen. | |
Trittin lehnt sich im Stuhl zurück. Er schmunzelt und wirkt auch sonst sehr | |
zufrieden. | |
## Einstimmiges Ergebnis | |
Drei Tage lang haben die Grünen ihr Wahlprogramm diskutiert, die Rede | |
Kretschmanns am Sonntag war der krönende Abschluss. 2.600 Änderungsanträge, | |
Debatten bis kurz vor Mitternacht: Die Grünen haben sich wirklich Arbeit | |
gemacht mit ihren Inhalten. Am Ende wird Bundesgeschäftsführerin Steffi | |
Lemke fast gerührt das Ergebnis verkünden. Einstimmig. Keine Gegenstimme, | |
eine Enthaltung. | |
Alle sind sich einig. Das ist die Botschaft für die Medien. Das ist die | |
Inszenierung. | |
Die eigentliche Geschichte dieser drei Tage ist die einer Eskalation. Eines | |
kalten Kampfes um Deutungshoheit, wie ihn die Grünen lange nicht erlebt | |
haben. Kretschmann gegen Trittin. | |
## Foul von Kretschmann | |
Den Aufschlag macht Kretschmann. Er gibt der Süddeutschen Zeitung ein | |
Interview, das am Freitag erscheint. Darin warnt er vor zu viel | |
Steuererhöhungen, er mahnt, die Grünen dürften der Wirtschaft „keine | |
unzumutbaren Belastungen“ aufbürden. | |
Das Interview hat Kretschmanns Staatskanzlei der SZ angeboten, es ist ein | |
bewusstes Signal. | |
Und ein grobes Foulspiel. | |
Kretschmann brüskiert Trittin, aber auch den Kurs der Bundespartei. Ihr | |
Finanzkonzept hat die Partei fein austariert, jahrelang tagten | |
Arbeitsgruppen unter der Leitung Trittins. Im Grunde soll der Parteitag nur | |
bestätigen, was längst beschlossen ist. | |
Und jetzt wettert der Ministerpräsident gegen das eigenen Programm? | |
## Kretschmann? „Unsolidarisch“ | |
In den Betongängen des Velodroms wird Kretschmann zum Gesprächsthema Nummer | |
eins. „Unsolidarisch“, kommentiert Nordrhein-Westfalens Landeschef Sven | |
Lehmann. Das Interview konterkariere die grüne Grundüberzeugung, dass das | |
Gemeinwesen unterfinanziert ist. „Demokratisch gefasste Beschlüsse kurz vor | |
einem Parteitag für Unfug zu erklären, ist nicht hilfreich“, schimpft | |
Berlins Landesvorsitzender Daniel Wesener. „Kretschmann macht sich zum | |
Kronzeugen des politischen Gegners. Er stellt sich über die Partei.“ | |
Anderen Grünen fallen abends beim Bier noch heftigere Schmähungen ein. | |
Samstagnachmittag, Programmkapitel Arbeit, Boris Palmer kämpft. Palmer ist | |
Oberbürger in Tübingen, ebenfalls Realo, und überzeugt davon, das | |
Steuererhöhungen in einem Wahlkampf ziemlich großer Quatsch sind. Er | |
schreit gegen Beschränkungen für Leiharbeit an, wütend, übertönt die | |
Buhrufe: „Überdreht die Schraube nicht!“ | |
Kretschmann klatscht demonstrativ, er und Palmer stecken später die Köpfe | |
zusammen. Kalkulierte Geste. Sie beide verstehen was von Wirtschaft. | |
Zwei Reihen davor sitzt Trittin, die Arme verschränkt, die Miene | |
unbeweglich. Er nimmt die Sache, davon kann man ausgehen, auch persönlich. | |
Der grün-rote Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg nennt explizit als | |
Ziel, hohe Privatvermögen stärker an der Finanzierung der Länder zu | |
beteiligen. Das geht nur über die Vermögensteuer. Trittin sah diese Steuer | |
lange distanziert. Leute, die dabei waren, erzählen, dass er die | |
Baden-Württemberger sogar vor allzu euphorischen Formulierungen im | |
Koalitionsvertrag gewarnt habe. Heute verdammt Kretschmann das Instrument, | |
das er selbst in den Vertrag schrieb. | |
## Kretschmann oder Trittin | |
Samstagmorgen, die Delegierten stellen Kaffeetassen neben telefonbuchdicke | |
Papierstapel, jetzt geht es um Steuern und Finanzen. Pathetisch gesagt: Nun | |
entscheidet der Souverän, wer recht hat. Kretschmann oder Trittin. Darf man | |
die Steuern erhöhen, um Schulen und Kitas besser auszustatten? | |
Routiniert stimmen die Delegierten über fünf Änderungsanträge ab, schnell, | |
ohne große Diskussion, mit großer Mehrheit. Vermögensabgabe, | |
Vermögensteuer, höherer Spitzensteuersatz, alles drin. Die Grünen weichen | |
keinen Millimeter von Trittins Kurs ab, die Revolte fällt aus. | |
Dazu muss man sagen, dass sie weder stattfinden konnte noch sollte. Denn | |
Kretschmann hatte, frei nach Lenin, nicht mal die Bahnsteigkarte für seinen | |
Aufstand gelöst. Ein Änderungsantrag des Ministerpräsidenten lag bis zum | |
Schluss nicht vor. Es ging ihm vor allem um die Schlagzeilen, nicht um eine | |
echte Kurskorrektur. Es ging ihm um sein Image im Wirtschaftsländle | |
Baden-Württemberg. | |
Mit dieser Taktik stand er nicht allein da: Drei namhafte Realos, | |
Fraktionsvize Kerstin Andreae, Bayerns Landeschef Dieter Janecek und | |
Palmer, hatten sich in den Wochen zuvor mit Warnungen vor Steuererhöhungen | |
in den Zeitungen profiliert. Diese Debatte schnurrte im Velodrom zusammen | |
wie ein Stück Biotofu im Backofen. | |
## „Wo war denn jetzt der Streit?“ | |
Die drei ließen ihre wolkig formulierten Änderungswünsche in noch | |
wolkigeren Kompromissen aufgehen oder zogen sie gleich freiwillig zurück. | |
„Wo war denn jetzt der Streit?“, fragt ein Delegierter verblüfft nach der | |
flotten Beschlussfassung. | |
Natürlich sieht das jeder anders. Während Janecek bei der Vermögensteuer | |
einen „klassischen Kompromiss“ ausmacht, lästerten linke Grüne in den | |
Fluren über den Zwergenaufstand. | |
Und Trittin und Kretschmann? Sind wieder ein Herz und eine Seele. Als | |
Kretschmann seine Rede beendet, steigt Trittin steif die Treppen hoch und | |
umarmt Kretschmann. Kurz und ungelenk. Das Bild für die Kameras. Trittin | |
verbirgt den Triumph, Kretschmann die Demütigung. Als sei nie was gewesen. | |
28 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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