# taz.de -- Ein Prozess in der Provinz: Wo fängt rechts an? | |
> Tobias M. mag keine Leute, die von Sozialhilfe leben und trotzdem einen | |
> Flachbildfernseher haben. Also zündelt er vor einem Haus, in dem | |
> Migranten wohnen. | |
Bild: München und der NSU-Prozess sind weit weg, aber auch im Landgericht Rott… | |
ROTTWEIL taz | Tobias M. ist 21 Jahre alt, man fand bei ihm eine | |
Hakenkreuzflagge und ein paar Alben mit rechtsextremer Musik. Er mag keine | |
Leute, die von Sozialhilfe leben und trotzdem einen Flachbildfernseher | |
haben, sagt er. Schon gar nicht, wenn sie Ausländer sind. Tobias M. ist | |
Metzger. Vielleicht hat er getan, worüber er und seine Kumpels in Dürbheim | |
im Landkreis Tuttlingen, am Fuße der Schwäbischen Alb, bis dahin nur | |
redeten. | |
Er soll versucht haben, in der Nacht auf den 7. Oktober 2012, als er | |
betrunken von einem Weinfest kam, einen Sperrmüllhaufen direkt vor dem Haus | |
einer neunköpfigen türkischen Familie in Brand zu stecken. Besonders schwer | |
wiegt der Vorwurf, dass er mit einer Mülltonne den Fluchtweg verstellen | |
wollte. M. wähnte sich im Schutz der Nacht, wurde jedoch von den Bewohnern | |
bemerkt, als er die Mülltonne verrückte. Die Familie konnte mit einigen | |
Eimern Wasser den Brand löschen. Verletzt wurde niemand. | |
Jetzt sitzt Tobias M. in Raum 201 des Landgerichts Rottweil. Die | |
Staatsanwaltschaft wirft ihm versuchte schwere Brandstiftung und versuchten | |
Mord vor. Motive: Fremdenfeindlichkeit und Sozialneid, unter anderem. | |
Geforderte Strafe: sechs Jahre. Ein Prozess in der Provinz. | |
München ist weit weg. Dort beginnt kommende Woche der Prozess gegen den | |
organisierten Rechtsterrorismus, gegen Beate Zschäpe und den NSU. So weit | |
weg, dass die betroffene türkische Familie in Dürbheim noch nie davon | |
gehört hat. Dort, in München, der große Fall, neun Tote, hier ein kleiner | |
Fall, einer von den vielen, die sich fast unterhalb der | |
Wahrnehmungsschwelle zutragen. Am Gericht in Rottweil gibt es kein | |
Akkreditierungsverfahren. Wer den Prozess beobachten will, kann das tun. | |
Wo fängt rechts an? Vielleicht auf Dürbheims Straßen, wo Tobias M. einer | |
türkischen Frau „anne“ hinterherruft, Kinder nachäffend, die so nach ihrer | |
Mutter rufen. Vielleicht im Bauwagen im Nachbarort Wurmlingen, dort saß M. | |
oft mit seinen Kumpels, indizierte Musik von Bands mit martialischen Namen | |
wie Stahlgewitter hörten sie und schimpften auf die Türken aus dem Dorf. | |
Aggression staute sich fast unbemerkt auf. | |
## „Einen Hass im Allgemeinen“ | |
Dürbheim ist eine aufstrebende Gemeinde, knapp 1.700 Einwohner, viel | |
Industrie, kaum Migranten. Tobias M. ist Dorfgespräch, berichten | |
Prozessbeobachter aus dem Ort. Man sei dort nicht so, habe auch gute | |
Erfahrungen mit Türken gemacht. Aber die betroffene Familie? Einer sagt: | |
„Schaffen nichts, tun nichts, da kriegt man schon einen Hass im | |
Allgemeinen. Der eine wird damit fertig, der andere nicht.“ | |
Die Fakten sind unstrittig: Tobias M. wird noch in der Tatnacht | |
festgenommen. Zur Tat und seinem Motiv kann oder will er nichts sagen. Nur | |
so viel: Filmriss. Das Weinfest, der Alkohol. Etwa 1,69 Promille soll er | |
zur Tatzeit im Blut gehabt haben. Als Prozessbeobachter sieht man Tobias M. | |
im Profil. Leichtes Doppelkinn, braunes Haar, Brille, kariertes Hemd. Wenn | |
er redet, klingt er inmitten der redegewandten Juristen unbeholfen. Er habe | |
niemanden umbringen wollen, sagt er. Er sei auch christlich und war lange | |
Ministrant. | |
Für die türkische Familie in Dürbheim muss die Oktobernacht, in der sie | |
Tobias M. ertappten, schockierend gewesen sein: Das Haus, an dem Tobias M. | |
gezündelt hat, ist eine Notunterkunft der Gemeinde. Durch einen Brand vier | |
Monate zuvor war die Familie heimatlos geworden. Tobias M. gehörte damals | |
schon zu den Verdächtigen, mehrfach war gegen ihn wegen Brandstiftung an | |
Mülltonnen und Schuppen ermittelt worden – ergebnislos. | |
Damals, als die Familie ihr Haus verlor, war Tobias M. als Feuerwehrmann im | |
Einsatz, er sah, was sie hatten, und ärgerte sich: Playstation, | |
Videospiele, Flachbildfernseher – obwohl keiner aus der Familie arbeitete. | |
Als er von Polizisten nach dem nächtlichen Verhör im Oktober nach Hause | |
gefahren wurde, sagte Tobias M. den Beamten: Er frage sich, wie sich „der | |
Türke“ bei so vielen Frauen und Kindern einen solchen Lebensstandard | |
leisten könne. In der Notunterkunft lebte der Mann mit seiner Frau, von der | |
er getrennt ist, mit seiner Freundin und sechs Kindern. | |
## „Angst im eigenen Land“ | |
So redeten sie in ihrem Bauwagen, auch im Dorf erregt man mit solchen | |
Äußerungen kein Aufsehen. Zur Bauwagenclique gehört Christoph H., 20, der | |
beste Freund des Angeklagten. Tobias M. möge keine Türken, sagt er. Schon | |
gar nicht solche, die auf Kosten des Sozialstaats leben. Der Richter fragt | |
weiter und bekommt Antwort: „Ist Ihnen das noch nie passiert: da laufen Sie | |
an welchen vorbei und werden angemacht? Von wegen Kartoffel und so. Da hast | |
du noch Angst, dass du eine aufs Maul kriegst, im eigenen Land.“ Den | |
Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit kann Tobias M.s Mutter, 40, nicht | |
verstehen, er renne doch gar nicht rum wie ein Rechtsradikaler, hatte sie | |
der Polizei gesagt. | |
In einer Verhandlungspause sitzt die Nebenklägerin, die bei der Tat im Haus | |
war, auf den steinernen Stufen vor dem Gericht. Es ist ein warmer Tag, sie | |
trägt T-Shirt, Röhrenjeans und Ballerinas, ihr dunkles Haar offen. In | |
Dürbheim sei sie und ihre Familie vorher noch nie angefeindet worden, sagt | |
sie. Seit mehr als zehn Jahren lebt sie dort und kennt Tobias M. vom Sehen. | |
Sie und ihr Lebensgefährte sind seit der Tat überzeugt: Tobias M. trachtet | |
ihnen nach dem Leben. Ihnen als Türken. | |
## Wut auf den verlorenen Vater | |
M.s Verteidiger Bernd Behnke echauffiert sich über den Vorwurf der | |
Fremdenfeindlichkeit. Dem Jungen gehören die Ohren lang gezogen, findet er. | |
Wären der Justitia die Augen nicht schon verbunden, könnte man sich gut | |
vorstellen, dass Behnke sie bitten würde, eines zuzudrücken. Er fordert | |
drei Jahre Haft, die Mindeststrafe. Und eine Therapie, auch wegen des | |
schwierigen familiären Hintergrundes. Tobias M. hatte zum Tatzeitpunkt | |
geglaubt, sein leiblicher Vater sei Türke. Er wuchs bei seiner Mutter auf, | |
lernte den Vater nie kennen. Vielleicht könnte das eine Rolle gespielt | |
haben, Wut auf den verlorenen Vater. | |
M.s Haltung will Behnke in keiner Weise gutheißen. Er hätte gerne, dass | |
sich die Familie und Tobias M. bei einem Täter-Opfer-Ausgleich die Hand | |
reichen. Aber die Opfer wollen nicht. | |
Dabei wäre eine Befriedung nötig, sagt er. „Was meinen Sie, was in der | |
Gemeinde los ist? Die schimpfen über Türken, den Sozialstaat, dann auch | |
noch über das Gericht.“ Es dürfe nicht dazu kommen, dass jede Tat, die mit | |
Ausländern zu tun habe, als fremdenfeindlich gelte – auch nicht im | |
Deutschland der NSU-Morde. Das, sagt Behnke und dreht alles um, sei das | |
eigentlich fremdenfeindliche Verhalten. | |
Das Gericht verurteilt M. zu drei Jahren Haft wegen versuchter schwerer | |
Brandstiftung. Den Vorwurf des versuchten Mordes lässt es fallen. „Im | |
Zweifel für den Angeklagten“, sagt der Richter, Beweise für die | |
Tötungsabsicht gab es nicht. Die türkische Familie wird Revision einlegen. | |
Und sie hat einen Wunsch: wegziehen aus Dürbheim. | |
4 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Lena Müssigmann | |
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