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# taz.de -- Buch „Putin kaputt!?“: Meine Mutter wäscht mit Seife
> Bei den als Protestmuffeln geltenden Russen formiert sich eine breite
> Bürgerbewegung. Aber nicht jeder Putin-Kritiker ist ein lupenreiner
> Demokrat.
Bild: Auch nicht zufrieden mit Putin: Reporter ohne Grenzen.
Ein Jahr ist es her, dass Kira Sokolowa in Tscheljabinsk in ein Flugzeug
stieg und nach Moskau flog. Wie sie strömten Tausende Menschen aus allen
Regionen Russlands am 6. Mai 2012 in die Hauptstadt. Ihr Ziel war der
Moskauer Bolotnaja-Platz, auf dem die Demonstrierenden versuchten, Wladimir
Putins dritte Amtszeit als Präsident zu verhindern. Zuvor zeigten
zahlreiche im Internet veröffentlichte Videos, wie unfaire Bedingungen und
massive Wahlfälschungen zum vermeintlichen Wahlsieg Putins geführt hatten.
Dass die 35-jährige Kunstpädagogin nun auf dem Massenprotest der
Putin-Gegner, dem russischen „Marsch der Millionen“, mitlief, darüber war
sie selbst noch immer überrascht. Kira Sokolowa ist wie viele in der
Protestbewegung ein Neuling. Als Wladimir Putin im Herbst 2011 im Fernsehen
vor laufender Kamera ausgepfiffen wurde, bekam sie Zweifel an Putins
Führungsrolle und begann sich in den vielen russischen Blogs der
Protestbewegung zu informieren. Ein Fernsehbeitrag über Wahlfälschungen und
brutale Übergriffe in ihrer Heimatstadt versetzte sie in einen
Schockzustand –und machte sie zu einer der aktivsten Unterstützerin der
„Bürgerbewegung Südural“.
Über die Erlebnisse ihres so plötzlich aufgeflammten politischen Interesses
hat Kira Sokolowa, die eigentlich anders heißt, Mischa Gabowitsch erzählt.
In Interviews wie mit der Protestteilnehmerin Sokolowa war er auf der Suche
nach einer Antwort auf die Fragen: Was hat Russland aus einer Periode der
Lethargie gerissen? Wie konnte sich der das ganze Land erfassende Unmut
über das System Putin plötzlich entladen?
Seit dem Urknall der Protestbewegung im Dezember 2011 recherchierte der
Soziologe und Zeithistoriker Gabowitsch und durchforstete auch die
unzähligen russischen Blogs zur Protestbewegung. Nun hat er seine
Forschungsergebnisse in einem Buch zusammengetragen.
## Protestwelle nach Wahlfälschungen
In „Putin kaputt!?“ setzt Gabowitsch seine Beobachtungen der Bewegung und
ihrer vielen Gruppierungen zu einer Art Kaleidoskop zusammen und spricht
darin der Gruppe der Wahlbeobachter, zu denen auch Kira Sokolowa gehört,
einen erheblichen Einfluss auf die neue Protestszene zu. Die Videos der
Beobachter von oftmals offensichtlichen Wahlfälschungen führten zur
Protestwelle. „Erstmals spürten viele Menschen in Russland, dass sich die
Machthaber für sie überhaupt nicht interessieren, obwohl sie Putin
teilweise unterstützen. Sie merkten, dass es völlig egal war, wem sie ihre
Stimme geben“, sagt Mischa Gabowitsch.
Der landesweite Schock hat mit seiner neuen Protestkultur einen
langfristigen Wandel Russlands ausgelöst, schreibt Gabowitsch. Aus der
Überraschung, mit ihrem Unmut über das Regime Putin nicht mehr allein zu
sein, nutzten die sonst als apathische Protestmuffel geltenden Russinnen
und Russen die Massendemonstrationen nicht nur für das Skandieren
politischer Parolen, sondern vielmehr noch für das gegenseitige
Kennenlernen Gleichgesinnter.
Die Proteste, besonders in den Provinzstädten wie Nischni Nowgorod, waren
und sind noch immer deswegen Schmelztiegel neuer lokaler Bürgerbewegungen.
Hierhin, in die von der Hauptstadt abgelegenen Regionen, hat sich die
Protestbewegung inzwischen verlagert, wo sie außerhalb Russlands kaum
Beachtung findet. Vielleicht auch weil sie sich vielfach lokalen Themen wie
Umweltsünden widmet und damit graswurzelbewegt neue politische
Erkenntnisräume öffnet.
Vom Abebben der Protestbewegung könne keine Rede sein, betonte die Grand
Dame der russischen Literatur, Ljudmilla Ulitzkaja, vor kurzem auf einem
Treffen russischer Autorinnen und Schriftsteller in der Berliner Akademie
der Künste – froh sei sie, weil sie sich in einer Zeit wähne, die Anzeichen
einer neu auflebenden Zivilgesellschaft Russlands zeige. Dass das kaum
beachtet werde, liege zudem an der in viele Nischen fragmentierten
Protestwelle, in der sich Gruppen unterschiedlicher sozialer, politischer
und sexueller Orientierung versammelten.
## Keine homogene Protestbewegung
Das war schon am 6. Mai 2012 zu sehen. Vereint trieb es Umweltschützer,
Menschenrechtler, Studenten, Anarchisten, Kommunisten, Christen und auch
ultranationalistische Gruppierungen zum Moskauer Bolotnaja-Platz. Viele
Demonstranten verzichteten allerdings darauf, sich einer der Gruppierungen
erkennbar anzuschließen „Die Protestbewegung ist kein homogenes Gebilde“,
sagt Ljudmilla Ulitzkaja, „die große Frage ist aber, ob die miteinander ins
Gespräch kommen. Das herauszufinden, braucht Zeit.“ Dennoch: Putin habe
Angst bekommen – seine Repressalien seien Zeugnisse der Angst.
Die bekommt der Blogger Alexej Nawalny, Anführer und Hoffnungsträger der
neuen Bürgerbewegung, gerade besonders zu spüren. Den Gerichtsprozess wegen
Veruntreuung gegen Russlands obersten Antikorruptionskämpfer halten viele
seiner Landsleute für einen Racheakt Putins, der Russlands bekanntesten
Kremlkritiker auf stumm schalten will.
Doch so sehr Alexej Nawalny ein neues Politikverständnis verkörpert, zudem
als Anwalt des Volkes gilt und von der Bürgerbewegung als potenzieller
Putin-Nachfolger gehandelt wird, so zwiespältig ist sein politischer
Hintergrund. Er unterstützte ultranationalistische Gruppierungen und ist
bekannt für seine Tiraden gegen angebliche Überfremdung Russlands sowie
seinen Traum von einer „russischen nationalen Wiedergeburt“.
## Nationalgesinnte Russen
Nawalny gehört sicher zu jener Garde nationalgesinnter Russen, die auch mit
reaktionären Mentalitäten in der Protestbewegung um Anhänger buhlen – und
vor denen Ljudmilla Ulitzkaja warnt. Schon fürchtet die 70-jährige Autorin
die massenhafte Wiederkehr des Sowjetmenschen, jenes durch und durch
opportunistischen, folgsamen und verantwortungsscheuen Charakters, der von
einem neuen russischen Imperium träumt. „Das sind Menschen, die sagen, der
Stalinismus war nicht schlecht und Stalin hätte Russland gut getan“, sagt
die für ihr aktuelles Buch „Das grüne Zelt“ hochgelobte Schriftstellerin.
Auf einen prominenten Vertreter dieses Menschentypus traf Ljudmilla
Ulitzkaja in der Berliner Akademie. Auf einem Podium saß neben ihr der
Schriftsteller und Ulitzkajas Duzfeind Sachar Prilepin. Der mit Maxim Gorki
verglichene Autor lobte vergangenes Jahr im Essay „Brief an den Genossen
Stalin“ dessen historische Leistungen. Zudem unterstützt der ehemalige
Tschetschenienkämpfer den ebenso skandalträchtigen Schriftsteller Eduard
Limonow und dessen verbotene nationalbolschewistische Partei, die
ästhetisch mit Nazisymbolik auftritt.
In ihren Reihen kämpft er gegen Putins autoritäres System, vor dessen
Verhaftungen er nun nur wegen seiner internationalen Prominenz verschont
bleibt. Dennoch: den Sowjetmenschen müsse Ljudmilla Ulitzkaja schon im
Machtapparat Putins suchen, eine nach Prilepins Ansicht unheilvolle
Ausgeburt des sozialdarwinistischen Markliberalismus der Ära Jelzin.
## Putin als alternder Bandenchef
Trotz der vielen unterschiedlichen Bühnen und Interessen der
Protestbewegung hat Putins Glaubwürdigkeit stark gelitten. Das liege auch
an einer neuen humorgeladenen Rhetorik, die die abschätzigen Kommentare
Putins zu den Protesten ins Absurde verkehrt, sagt Mischa Gabowitsch. „Er
wird schon lange nicht mehr als der große nationale Leader wahrgenommen,
sondern von vielen nur als alternder Bandenchef gesehen.“
Verantwortlich dafür sind die vielen künstlerischen, teils absurden
Interventionen, von denen die Punk-Gebete von Pussy Riot nur ein kleiner
Ausschnitt sind. Die Aktionskünstler haben der russischen Gesellschaft eine
neue Lachkultur beschert, die Putins repressiven Gesetzen mit absurder
Aktionskunst trotzen. Wie mit sogenannten Nano-Demos, auf denen Plüschtiere
und Spielzeugfiguren freie Wahlen fordern und von Polizisten als
staatsfeindliche Elemente abgeführt werden müssen. Oder den dadaistisch
anmutenden „Monstrationen“, auf denen Demonstrierende Plakate mit
vollkommen sinnlosen Parolen tragen, mit Slogans wie etwa: Meine Mutter
wäscht mit Seife.
Trotz der neuen Protestkultur, einer aufwachenden Zivilgesellschaft, kann
keiner prognostizieren, wohin Russland stürmt. Was kommt, sei abhängig von
Putins Machtsystem, mehr noch von seinen eingebauten Filtern, die
entscheidend sind, ob sich das System zum Guten wende – so die
Schriftstellerin Ulitzkaja. Denn diese ließen bisher immer nur die immer
gleichen, mit kaltem Verstand ausgestatteten Gefolgsleute durch, die
oftmals schon in vorauseilendem Gehorsam Putin Loyalität erweisen.
## Mischa Gabowitschs Buch „Putin kaputt!?“ erscheint am 20. Mai bei
Suhrkamp. 438 Seiten, 16,90 Euro
12 May 2013
## AUTOREN
Maximilian Grosser
## TAGS
Wladimir Putin
Russland
Bürgerbewegung
Stalin
Anarchisten
Kommunisten
Pussy Riot
Kreml
Schwerpunkt Pressefreiheit
Russland
Moskau
Wladimir Putin
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