# taz.de -- Gastbeitrag NSU-Prozess: Die Angehörigen wollen Gerechtigkeit | |
> Der NSU-Prozess ist historisch relevant. Nur durch ein gerechtes | |
> Verfahren kann das Vertrauen der türkischen Einwanderer wiedererlangt | |
> werden. | |
Bild: Mit geradem Rücken und selbstbewusster Pose: Beate Zschäpe vor Gericht. | |
Als klar war, dass ich als einer der vier Vertreter der türkischen Medien | |
einen Sitzplatz beim NSU-Prozess in München erhalten sollte, ließ mich eine | |
Frage nicht mehr los: Wie würden die Rassisten, die für den grausamen Tod | |
von neun Kleinunternehmern – davon acht aus der Türkei – verantwortlich | |
sind, vor das Gericht treten? Was würde ich denken und fühlen, wenn die | |
Angeklagten den Verhandlungssaal betraten? | |
Nun: Mir standen die Haare zu Berge, als die Neonazis in den Raum kamen. | |
Jeder andere Antirassist in meiner Situation hätte sich ähnlich mühsam | |
zusammengerissen. Viel lieber hätte ich lauthals „Mörder!“ geschrien. | |
Besonders das Auftreten von Beate Zschäpe, die in den Saal schritt, als | |
wäre sie auf einem Catwalk, war anfangs kaum zu deuten. „Was veranstaltet | |
diese Frau da?“ fragte ich meinen Kollegen perplex. Wenn ich in diesem | |
Moment schon so reagierte, wie müssen sich erst die Familien der | |
Nebenklage, die Väter, Männer und Kinder verloren hatten, gefühlt haben? | |
Warum gibt sich Zschäpe, mit dem Vorwurf der Mittäterschaft bei zehn Morden | |
und zwei Bombenanschlägen konfrontiert, vor Gericht betont lässig und | |
selbstbewusst? Angesichts einer hohen Haftstrafe, die sie vermutlich | |
erwartet? Unter logischer Betrachtung ist ihr Verhalten eher sonderbar. Es | |
bleibt deshalb uns überlassen, die „Message“ ihres Verhaltens zu lesen. | |
Zschäpe suggeriert mit ihrem Auftritt, nicht reumütig zu sein. Ein | |
wichtiger Teil der türkischen Presse hat mit Beginn der Verhandlung die | |
Gestik und Mimik Zschäpes analysiert. Was die Angehörigen der NSU-Opfer vom | |
ersten Verhandlungstag hielten, erfuhr ich am Abend des Prozesstages im | |
Türkischen Konsulat in München, wo mehrere der Nebenkläger zusammenkamen. | |
## „Was fühlten Sie, als Zschäpe den Saal betrat?“ | |
„Ich sah keine Anwälte, keine Richter und keine Journalisten. Mein Blick | |
galt einzig den Mördern meines Sohnes“, erzählte Ismail Yozgat, dessen Sohn | |
Halit Yozgat in Kassel von den Neonazis erschossen wurde. „Was fühlten Sie, | |
als Zschäpe den Saal betrat?“ fragte ich Elif Kubasik, Frau des in Dortmund | |
getöteten Mehmet Kubasik. „Sie wollte uns demonstrieren, dass ihr ihre | |
Taten nicht leidtun. Ich wollte stärker sein und biss die Zähne zusammen, | |
um nicht zu weinen.“ | |
Die Tochter des in Nürnberg getöteten Ismail Yasar fügt hinzu: „Es war | |
nicht einfach für mich, Zschäpe zu sehen. Ich zitterte am ganzen Körper. | |
Trotz allem wollte ich den mutmaßlichen Mördern meines Vaters in die Augen | |
blicken.“ Wer sich zumindest für einen kurzen Moment in die Lage des Vaters | |
Ismail Yozgat, der Witwe Elif Kubasik, oder Semiya Simsek, deren Vater | |
Enver ermordet wurde, versetzen kann, wird merken: Es ist kaum auszuhalten. | |
Erst dann wird ersichtlich, wie belastend es für die Familien sein muss, | |
mit den mutmaßlichen Tätern im gleichen Saal zu sitzen. Schmerz und Zorn | |
sitzen tief, jedoch bleibt den Hinterbliebenen nichts weiter als das Warten | |
auf einen gerechten Urteilsspruch. | |
## Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz? | |
Alle Angehörigen, mit denen ich gesprochen habe, wollen Gerechtigkeit. Noch | |
säßen nicht alle Mörder auf der Anklagebank. Alle gehen auch davon aus, | |
dass der Verfassungsschutz in die Taten verwickelt ist. Verständlich ist | |
ihr Zorn gegen die Hauptangeklagte und ihre Mittäter, angesichts der Frage, | |
wer die Täter ins Felde führte und was der Grund für die Tötungen war. | |
Sollten die zuständigen Richter diesen Fragen im Rahmen der Verhandlung | |
nicht genügend nachgegangen sein, werden die Höchststrafen für Beate | |
Zschäpe und die weiteren Angeklagten den Familien unzureichend erscheinen. | |
Nicht nur die Angehörigen, auch ein großer Teil der türkeistämmigen | |
Einwanderer denkt ähnlich. Die Verbindungen zwischen der Neonaziszene und | |
dem Verfassungsschutz sollen vollständig aufgedeckt und die Beteiligten | |
sollen Rechenschaft ablegen, so die Forderung. Ohne befriedigende Antworten | |
unter den Opferfamilien und im weiteren Sinne auch unter den Einwanderern | |
wird das Vertrauen gegenüber Deutschland und den Deutschen zerrüttet sein. | |
Die NSU-Mordserie markiert nach dem Brandanschlag in Solingen den zweiten | |
großen Bruch im Verhältnis der türkeistämmigen Einwanderer zu Deutschland. | |
Für den durchschnittlichen Ali-Normal-Einwanderer sind die letzten 20 Jahre | |
auf zwei Sätze reduzierbar. „Jederzeit kann das Wohnhaus eines | |
Türkeistämmigen brennen.“ und „Jederzeit kann ein Türkeistämmiger Opfer | |
einer rassistischen Mordserie werden.“ | |
So ist die Abkapselung der Türkeistämmigen auch nach 50 Jahren in diesem | |
Lande zu betrachten. Die Deutschen sind aus historischen Gründen per se | |
rassistisch und dementsprechend halten wir unsere alltäglichen Kontakte | |
gering, so diese Lesart. Deshalb ist das NSU-Verfahren historisch relevant. | |
Um das Vertrauen der Angehörigen und der Einwanderer wieder zu erlangen. | |
Und wegen der Möglichkeit, die Verbindungen des Verfassungsschutzes zur | |
rechten Szene umfassend aufzuklären. | |
Übersetzung: Ebru Taşdemir | |
## Die taz kooperiert beim NSU-Prozess mit der türkischen Zeitung sowie dem | |
freien Radio LORA München. Beide Medien haben – anders als die taz – beim | |
Losverfahren einen der 50 sicheren Journalistenplätze bekommen. Diesen | |
werden sie der taz regelmäßig zur Verfügung stellen. | |
11 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Yücel Özdemir | |
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Ralf Wohlleben | |
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