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# taz.de -- Tarifexperte über Folgen der Krise: „Uns droht Troika für alle�…
> Nicht nur die Südeuropäer sollen Löhne kürzen. Auch für die anderen
> Länder habe die EU-Kommission solche Pläne, warnt Tarifexperte Thorsten
> Schulten.
Bild: Kritik in luftiger Höhe: Ein Kletterer hilft beim Entrollen eines Protes…
taz: Herr Schulten, Sie warnen, wir bekommen in naher Zukunft „Troika für
alle“. In allen 27 EU-Ländern drohten seitens der EU-Kommission Eingriffe
in die Tarifvertragssysteme und Höhe der Löhne. Wie kommen Sie darauf?
Thorsten Schulten: Zuerst einmal muss man festhalten, dass die Lohnpolitik
für die EU-Kommission die zentrale Rolle spielt, um die Schulden- und
Wettbewerbskrise Europas, die die Kommission ausmacht, zu bekämpfen. Indem
man die Löhne im öffentlichen Dienst einfriert oder senkt, will man die
Haushalte der Krisenländern konsolidieren. Und über Lohnsenkungen
insgesamt, also auch in der Privatwirtschaft, sollen diese Länder
wettbewerbsfähiger werden.
Bisher hat die Troika aber nur den Krisenländern per Memorandum
vorgeschrieben, was sie tun müssen, um Kredite zu erhalten.
Jenseits der Memoranden gibt es aber das sogenannte Europäische Semester.
Das ist ein Zyklus, in dem die EU-Kommission allen Ländern jährlich neu
empfiehlt, wie sie ihre Wirtschaftspolitik enger koordinieren sollten.
Sowohl die aktuellen Vorstellungen von EU-Kommissionspräsident José Manuel
Barroso und von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy als auch von Angela
Merkel zielen darauf, diese Vorschläge verbindlich zu machen. Angela Merkel
hat auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos klar gesagt: alle
Mitgliedsstaaten sollen sich vertraglich zu Strukturreformen à la
Europäisches Semester verpflichten.
Was soll reformiert werden?
Die Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen, die wichtigste Direktion
der Europäische Kommission, die auch die Troika-Memorandenprogramme
mitschreibt, listet in einem aktuellen Report sogenannte
„beschäftigungsfreundliche Reformen“ auf, die nötig seien. Sie sagt unter
anderem ganz offen, wir wollen, dass die Tarifbindung reduziert wird und
wir wollen, man höre genau hin, dass die allgemeine Lohnsetzungsmacht der
Gewerkschaften reduziert wird.
Das blieb nicht ohne Widerspruch ...
Ja, EU-Währungskommissar Olli Rehn musste auf einer Tagung des Europäischen
Gewerkschaftsbundes verbal ein bisschen zurück rudern, aber es zeigt, wie
diese Leute denken.
Was bekommen Länder, die noch nicht in der Krise stecken, von der
Generaldirektion empfohlen?
Belgien beispielsweise hat ein sehr gut entwickeltes
Flächentarifvertragssystem. Und sie indexieren ihre Löhne, das heißt,
steigen die Preise über eine gewisse Marke an, werden die Löhne automatisch
auch angehoben. Beides ist der Kommission ein Dorn im Auge. Sie fordert,
die Indexierung abzuschaffen und empfiehlt, Betrieben sollte es möglich
sein, vom System übergreifender Flächentarifverträge abzuweichen. Schweden
wiederum empfiehlt die Kommission mehr Lohnspreizung nach unten. Bisher hat
das Land eine sehr solidarische Lohnpolitik und versucht, den
Niedriglohnbereich weitgehend durch Tarifverträge zu begrenzen.
Welche Folgen hat es, wenn ein Tarifvertragssystem dezentralisiert wird,
das heißt, wenn die Lohnpolitik nicht mehr übergreifend für eine Branche
verhandelt wird, sondern nur noch in einzelnen Betrieben?
Die Tarifbindung geht drastisch zurück, immer mehr Beschäftigte stehen also
ohne Schutz eines Tarifvertrags da. Ganz deutlich sieht man das
beispielsweise in Spanien. Von 2011 auf 2012 hat sich dort die Zahl der
gültigen Tarifverträge von 4.337 auf 2.611 fast halbiert. Will man aber
tarifliche Erfolge verallgemeinern, geht das nur über Flächentarifverträge.
Die kann man leicht zerschlagen, aber es ist unglaublich schwierig, sie
wieder aufzubauen.
Weiß die EU-Kommission so genau, welche Folgen ihre Reformvorschläge
hätten?
Es gibt sicher einige, die die Krise gezielt für Klassenkampf von oben
nutzen. Aber aus Diskussionen mit Leuten aus der Generaldirektion ist mein
Eindruck mittlerweile, dass viele erst jetzt langsam merken, dass sie daran
gehen, soziale Errungenschaften in Europa, die über Jahrzehnte erkämpft
wurden, zu demontieren. Es gibt einfach zu viele Leute, die kommen aus
Business-Schools und haben nur Mainstream-Ökonomie vermittelt bekommen.
Sie empfehlen unter anderem, juristisch gegen solche Eingriffe vorzugehen?
Ja. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO sagt ja mittlerweile,
vieles, was man Griechenland und Spanien mit der Memorandumpolitik
aufzwingt, verstößt gegen die ILO-Kernarbeitsnormen, die die Länder
unterzeichnet haben, oder gegen die Tarifautonomie. Auch in Portugal hat ja
das Verfassungsgericht etliche Sparmaßnahmen als sozial unausgewogen
verworfen.
Aber die EU-Kommission oder die Troika nehmen die ILO doch nicht wirklich
Ernst.
Das stimmt leider. Und auch im Fall Portugals wurde überhaupt nicht
anerkannt, dass dort eine Politik gemacht wird, die gegen Verfassungsnormen
verstößt. Trotzdem muss man auch diesen Weg nutzen.
Und welchen noch?
Deutschland spielt die zentrale Rolle. Die Gewerkschaften hier müssen alles
daran setzen, die deutsche Politik der europäischen Krisenbearbeitung zu
verändern. Denn die Lage der Gewerkschaften in den Krisenländern erscheint
mir doch relativ hoffnungslos, trotz der eindrucksvollen Mobilisierungen,
die dort stattfinden.
12 May 2013
## AUTOREN
Eva Völpel
## TAGS
Euro
Troika
Krise
Gewerkschaft
Großbritannien
Migration
Jugendarbeitslosigkeit
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