| # taz.de -- Realitycheck für den Tatort: Dienst nach Vorschrift, bitte! | |
| > Ist es ein Ausdruck grünen Spießertums, wenn man auf die Beachtung | |
| > rechtsstaatlicher Regeln beim „Tatort“ achtet? Nein, durchaus nicht. | |
| Bild: Auch Christian Ulmen steht jetzt in seiner Funktion als Tatort-Kommissar … | |
| „Dann schlag ich sie tot!“ Eine markige Aussage des Hamburger | |
| „Tatort“-Kommissars Nick Tschiller über Menschenhändler, die | |
| schutzbedürftige Mädchen bedrohen. | |
| Um für deren Sicherheit zu sorgen, überholt der Kommissar seine Bürokratie | |
| notfalls rechts. Er selbst wird zum Gesetz und erinnert dabei an Clint | |
| Eastwoods „Dirty Harry“. Sein Ansinnen aber bleibt nicht unkommentiert. | |
| Eines der Mädchen antwortet mit einem zynischen „Toll!“ Sie ahnt, dass sie | |
| vorher sterben muss. Und der Drehbuchautor ahnt, dass er die Äußerung des | |
| Kommissars nicht unkommentiert lassen kann. Es entsteht ein Bewusstsein für | |
| das Vorgehen des Kommissars. | |
| Um diesen Diskurs nicht jedes Mal dem Drehbuch zu überlassen, gibt es seit | |
| dem vergangenen Wochenende den [1][Twitter-Account „Tatortwatch“], der nun | |
| im Wochenrhythmus die Folgen analysiert. Erklärend heißt es in der | |
| Twitter-Bio: „Grüne Rechts- und Innenpolitiker twittern | |
| BürgerInnenrechtsverletzungen live“. Es ist also auch ein politisches Ding. | |
| „Wir sind Menschen, die gerne ’Tatort‘ gucken, die sich aber über bestim… | |
| Verhaltensweisen ärgern‘“, sagt die 29-jährige Juristin Paula Riester, ei… | |
| der Macherinnen. Ihre Tweets lesen sich so: „Keine Überraschung – das | |
| Seminar zur Belehrung über Zeugen- und Beschuldigtenrechte haben die | |
| Kommissar_innen wohl geschwänzt.“ Viel mehr passierte Sonntag nicht. Es | |
| fehlten ein paar Belehrungen – das war’s. Dienst nach Vorschrift. | |
| Handelt es sich bei den „Tatort“-Watchern also um kleinkarierte | |
| Spaßbremsen, die eine noch kritteligere Partei repräsentieren? | |
| CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe meint selbstredend, ja. Er spricht bei | |
| Twitter von einem „neuen grünen Bevormundungsprojekt“. Später legt er wen… | |
| sachgemäß [2][noch einen drauf]: „Wann starten die Grünen Menschenwatch?“ | |
| Gerade so, als wären Funkzellenabfrage, Bestandsdatenauskunft und | |
| Videoüberwachung nicht von dieser Welt. | |
| ## Der Hays Code | |
| Gröhe hat Unrecht, wenn er so tut, als wäre das, was da jedes Wochenende | |
| auf der Mattscheibe zu sehen ist, bloße Unterhaltung. Welche Bedeutung | |
| Bewegtbildern zukommen kann, offenbart ein Blick in die Geschichte | |
| Hollywoods. | |
| Der sogenannte Hays Code hat über Jahrzehnte die Arbeitsweise der | |
| Regisseure diktiert. Leinwandehepaare durften lange nicht in einem Raum | |
| schlafen. Die Leinwand galt als moralisches Vorbild, als Absicherung des | |
| Status quo. Filmische Codes wurden zu gesellschaftlichen. | |
| Das Argument kann man zwar nicht eins zu eins übernehmen, aber es schafft | |
| eine Vorstellung davon, wie Fernsehen Zuschauer beeinflusst. Wenn man immer | |
| wieder sieht, wie ein Polizist ohne Durchsuchungsbefehl in Wohnungen | |
| eindringt, dann nimmt man das irgendwann für bare Münze. Bei über 10 | |
| Millionen Zuschauern könnte das zum Problem werden. | |
| ## Anderthalb Stunden Aktenstudium | |
| Doch kann man in 90 Minuten überhaupt perfekten Realismus inszenieren? | |
| Nein: Niemand will einen Kommissar sehen, der anderthalb Stunden Akten | |
| wälzt. Weglassungen sind notwendiger Teil der Dramaturgie. | |
| „Tatort“-Drehbuchautor Fred Breinersdorfer umschreibt die Herausforderung | |
| so: „’Tatort‘ ist Fiktion. Aber die Filme werden vom Publikum oft als | |
| ’real‘ wahrgenommen. Deswegen müssen nicht nur die Menschenrechte, sondern | |
| auch die Prozessrechte eine Rolle spielen sowie die Sanktionen bei | |
| Nichtbeachtung.“ | |
| Die Debatte, die der grüne Twitter-Account „Tatortwatch“ angestoßen hat, | |
| ist also wichtig. Es geht dabei, anders als Hermann Gröhe meint, nicht um | |
| die völlige Normung der deutschen Serienlandschaft. Der „Tatort“ kann | |
| bleiben wie er ist, das sagen auch die Macher von „Tatortwatch“. Ihnen geht | |
| es vielmehr um das Bewusstsein für Fiktion. | |
| In diesem Sinne ist „Tatortwatch“ eine sehr gute Idee. Oder mit den Worten | |
| David Simons, Schöpfer von „The Wire“: „Weniger Realismus ist nie gut.“ | |
| 15 May 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://twitter.com/TatortWatch | |
| [2] http://twitter.com/groehe/status/333695300873093120 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Fleige | |
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