| # taz.de -- Ulrich Seidls Film „Paradies: Hoffnung“: Ein urgeiler Charakter… | |
| > „Paradies: Hoffnung“ beschließt Ulrich Seidls | |
| > Female-Misbehaviour-Trilogie: eine messerscharfe Studie der tiefen | |
| > Verunsicherung des Sichverliebens. | |
| Bild: Krasseste Pubertät. Grausam ehrliches Alter. | |
| Nicht jeder fährt im Urlaub nach Kenia, um sich dort von ein paar Beach | |
| Boys befriedigen und auf diesem Weg ein fragil angelegtes Quäntchen | |
| persönlichen Glücks zu finden („[1][Paradies: Liebe]“). Nicht jeder kniet | |
| minutenlang vor dem Kreuz und peitscht sich mit der Neunschwänzigen den | |
| Rücken wund, um für die Unkeuschheit in der Welt zu sühnen („[2][Paradies: | |
| Glaube]“). | |
| Und natürlich schicken auch nicht alle einfach mal ihre übergewichtigen | |
| Töchter und Söhne zum Abspeck-Drill ins Diät-Camp. Aber sich in einem | |
| solchen zu befinden und sich als Dreizehnjährige in den medizinischen | |
| Leiter, einen schweigsamen, feschen, junggebliebenen und offenbar | |
| alleinstehenden Mittfünfziger zu verlieben („Paradies: Hoffnung“), das kann | |
| dann schon als durchaus „normal“ durchgehen. | |
| Melanie (Melanie Lenz) – Tochter der Kenia-Sugarmama Teresa (Margarete | |
| Tiesel) und Nichte der Jesus-Liebhaberin Anna Maria (Maria Hofstätter) – | |
| ist die Dritte im Bunde der grenzgängerisch sehnsuchtsvollen Frauen in | |
| Seidls Opus magnum. Die Umstände ihrer ersten Liebe sind schräg, das ist | |
| wahr, so viel Teenagefett auf einem unmotiviert turnenden, lächerlich | |
| herumkommandierten Haufen hat man noch selten gesehen; so gelassen | |
| betrachtet und gezeigt werden Körperformen dieser normabweichenden | |
| Dimension sonst fast nie. | |
| Umso köstlicher die Gegenwelt zur ohnehin scheiternden Züchtigung, jene | |
| bockige Ausgelassenheit im engen Vierbettzimmer, ob mit Schokoriegel oder | |
| beim Sex-Talk, ob beim Strippoker oder bei den Schimpftiraden auf den | |
| reitgertendschwingenden Trainer (Michael Thomas). | |
| ## Improvisationskunst | |
| Wer wissen will, wie der Jugendliche aus Wien und Umgebung heutzutage | |
| spricht, zu welcher Wortwahl er – und insbesondere sie – fähig ist, welche | |
| Redundanzexzesse, Stilblüten und Dialoggefechte hier emergieren: bei Ulrich | |
| Seidl und der Improvisationskunst seiner Protagonistinnen kann man lernen, | |
| da stimmt alles, Komma, Diphtong, Idiom. In einem der innigen Gespräche, | |
| die Melanie mit ihrer besten Freundin im Kuschelhochbett führt, fällt der | |
| für die Hochzeit der Pubertät äußerst würdige Satz: „Der hat doch einen | |
| urgeilen Charakter aber.“ | |
| Sorgten die vieldeutigen, langen Blicke des Camp-Arztes für eine Serie | |
| wunderbar unschuldiger Annäherungsversuche durch Melanie, so ist es nun | |
| genau sein möglicherweise urgeiler Charakter, der auf jeden neuen ihrer | |
| Hoffnungsschimmer eine Ernüchterung folgen lässt. Die absurden Rituale des | |
| Doktorspielens im Untersuchungskämmerchen beschwört er selbst herauf; als | |
| sie ihn jedoch – einer veritablen Waldnymphe gleich – in die Natur lockt, | |
| gerät sein Wille zur Macht ordentlich ins Stocken. | |
| Was folgt, sind dauerunterdrückte Triebe und ein Rückzugsgefecht auf Raten. | |
| Weichgespülte Härte. Melanie kapiert langsam, aber doch, sie wird auch sehr | |
| schön zornig, wobei der anschließende jägermeisteranimierte Streifzug der | |
| Girls durch die Dorfdiskolandschaft unschön endet. | |
| ## Grausam ehrliches Alter | |
| „Paradies: Hoffnung“ ist bei aller Skurrilität in erster Linie eine | |
| messerscharfe Phasenverschiebungsstudie der tiefen Verunsicherung, der sich | |
| diejenigen unterziehen, die sich zu verlieben trauen. Öffnungen, | |
| Verschlüsse. Psychisch und physisch. Krasseste Pubertät. Grausam ehrliches | |
| Alter. Was geht? In diesem meinem Leben? Was hat mein Körper damit zu tun? | |
| Was die anderen, insbesondere die Erwachsenen? | |
| Es sind die Basics der menschlichen Beziehungen, die die Drehbuchkoautorin | |
| Veronika Franz und Ulrich Seidl interessieren, sie avisieren sie im | |
| inszenatorisch hochtaktilen Spannungsfeld von Doku und Fiction. | |
| Und weil Seidls bisherige Forschungsarbeit durchwegs von Szenerien der | |
| radikalen Überschreitung geprägt war, weil er sich den Voyeur und | |
| Menschenverächter, den Zyniker und Sozialpornografen, den Unhold und | |
| Provokateur, als der er immer wieder bezeichnet wird, mittlerweile schon | |
| auf seine eigene Webseite gestellt und damit einverleibt hat, und weil nach | |
| der Schleife am Schwanz des Beach Boys zum Mama-Teresa-Geburtstag und Tante | |
| Anna Marias Zungenkussversuchen mit dem Kruzifix die Erwartungen für den | |
| dritten Teil in einer gewissen Hinsicht hoch hingen, gilt der Abschlussfilm | |
| nun vielen als zu sanft, harmlos, diskret. | |
| Dabei wird erst mit „Paradies: Hoffnung“ deutlich, was manche immer schon | |
| zu wissen ahnten, nämlich dass Seidl nicht sie zeigt, wie sie sind, sondern | |
| uns, wie wir sind. Gerade das Abstandhalten vom vermeintlichen Tabubruch | |
| erzeugt jene nun endlich konstatierte „Normalität“, die den | |
| Erfahrungshorizont für all das bietet, was vorher kam – und vielleicht | |
| wieder kommen wird. | |
| ## Möglichst wahrhaftig | |
| O-Ton Seidl in einem Interview für die Filmzeitschrift Ray: „Ich versuche | |
| immer, möglichst wahrhaftig zu sein, auch wenn ich eine fiktive Geschichte | |
| erzähle. Der Zuschauer soll verunsichert sein, ob das, was er sieht, nun | |
| wahr ist oder nicht. So lehnt man sich nicht zurück und sieht andere | |
| Menschen an, mit denen man nichts zu tun hat, sondern es wirft einen auf | |
| sich selbst zurück.“ | |
| Teil 3 der Paradies-Suche eher mau zu finden bedeutet auch, sich jener | |
| exzessiven Abartigkeit viel zu sicher zu wähnen, die ihrerseits suggeriert, | |
| der andere – nicht man selbst – sei pervers. Seidls Zerrspiegel, die dem | |
| Alltagshorror seine Daseinsberechtigung wiedergeben, weichen in diesem Film | |
| einer nachgerade normalen Reflexion, die die Hoffnung auf pausenlose | |
| Radikalitätspotenzierung trübt. Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, | |
| dass das Paradies eben normal ist – und wir selbst uns immer erst auf dem | |
| Weg dahin befinden. | |
| „Paradies: Hoffnung“. Regie: Ulrich Seidl. Mit Melanie Lenz, Joseph Lorenz | |
| u. a. Österreich/Deutschland/Frankreich 2012, 91 Min. Kinostart Donnerstag, | |
| 16. Mai 2013. | |
| 15 May 2013 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Wurm | |
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