# taz.de -- Helfer und Mitwisser des NSU: Prahlende Rechtsterroristen | |
> Die Ermittler dachten, der NSU habe keine Mitwisser gehabt. Nach | |
> überraschenden Aussagen eines Angeklagten im NSU-Prozess ist das nicht | |
> mehr haltbar. | |
Bild: Ist da jemand? Carsten S. beim NSU-Prozess | |
Drei Neonazis, die sich streng abschirmten und das Rauben, Morden und | |
Bomben anfingen, ohne jemand anderen aus der rechtsextremen Szene in ihre | |
Taten einzuweihen: Das war die Annahme, die die Ermittler zum | |
„Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) bisher hatten. | |
Der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, sprach im | |
Untersuchungsausschuss des Bundestags von einer „extrem abgeschottet | |
lebenden“ Bande, der es offenbar gelungen sei, „ihr mörderisches Tun selbst | |
engsten Freunden und Unterstützern gegenüber zu verbergen“. | |
Doch nach nur wenigen Prozesstagen im NSU-Verfahren in München wackelt | |
diese Annahme gewaltig. Denn zumindest die Rechtsterroristen Uwe Mundlos | |
und Uwe Böhnhardt haben gegenüber ihren damaligen Kameraden durchaus Worte | |
über ihre Taten verloren. | |
Dringender denn je stellt sich nun die Frage: Wie viele Mitwisser gab es | |
wirklich? | |
Einer der Angeklagten, der ehemalige Neonazi Carsten S., hat in dieser | |
Woche in Saal A 101 ein tränenreiches Geständnis abgelegt, das weit über | |
seine früheren Aussagen gegenüber dem BKA und der Bundesanwaltschaft | |
hinausging. „Ich will reinen Tisch machen, es geht nicht anders“, sagte er. | |
## Eine Bombe als Taschenlampe getarnt | |
Als er Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Frühjahr 2000 eine Ceska-Pistole | |
samt Schalldämpfer lieferte, habe einer der beiden berichtet, „in Nürnberg | |
in irgendeinem Laden eine Taschenlampe hingestellt“ zu haben – mutmaßlich | |
eine Andeutung auf einen bisher nicht dem NSU zugeschriebenen Anschlag. | |
Am 23. Juni 1999 war in einer Pilsbar in der Nürnberger Südstadt, die ein | |
türkischer Pächter betrieb, eine Bombe explodiert. Beim Reinigen der | |
Toiletten hatte eine Putzkraft eine 30 Zentimeter große Taschenlampe | |
gefunden. Als der 18-Jährige sie anknipste, explodierte sie. Der junge Mann | |
hatte Glück: die selbst gebastelte Bombe verletzte ihn zwar am Oberkörper | |
sowie im Gesicht und an den Armen, aber nach kurzer Behandlung konnte er | |
das Krankenhaus verlassen. | |
Die Akten darüber hat die Nürnberger Staatsanwaltschaft inzwischen an den | |
Generalbundesanwalt weitergeleitet. Der hat das Bundeskriminalamt | |
beauftragt, wegen versuchten Mordes zu ermitteln. Sollte auch diese Tat dem | |
NSU zuzurechnen sein, gingen drei Anschläge und zehn Morde auf das Konto | |
der Terrorgruppe. | |
Es war nicht die einzige spektakuläre neue Aussage des Ex-Neonazis Carsten | |
S. vor dem Münchner Oberlandesgericht. Der wie er wegen Beihilfe zum Mord | |
Angeklagte Ralf Wohlleben habe ihm am Telefon einmal lachend berichtet, | |
dass Mundlos und Böhnhardt jemanden angeschossen hätten. Hoffentlich nicht | |
mit der Waffe, die er ihnen beschaffte, habe er sich damals gedacht, so | |
Carsten S. Welche Tat gemeint war, ist noch unklar. | |
Treffen diese Aussagen zu, so wussten mindestens zwei Helfer, dass ihre | |
Neonazifreunde im Untergrund schwerste Straftaten begingen – und behielten | |
es über ein Jahrzehnt für sich, während der eine zwischenzeitlich Karriere | |
in der rechtsextremen NPD machte und der andere ausstieg und ein neues | |
Leben begann. | |
## „Kein Zurück mehr“ | |
Wenn Mundlos und Böhnhardt gegenüber dem damals 20 Jahre alten Carsten S. – | |
den sie nur den „Kleenen“ nannten – mit Taten prahlten, dann dürfte davon | |
ausgegangen werden, dass sie es auch gegenüber anderen Helfern taten, sagt | |
auch ein Sprecher der Bundesanwaltschaft. | |
Dass die NSU-Terroristen in der Szene wahrgenommen werden wollten, | |
verdeutlicht schon ein Brief, der 2002 entstanden und an mindestens zwei | |
Macher von Neonaziheften verschickt wurde. „Die Aufgaben des NSU bestehen | |
in der energischen Bekämpfung der Feinde des deutschen Volkes“, hieß es | |
darin. „Getreu dem Motto ’Sieg oder Tod‘ wird es kein Zurück geben.“ | |
Die Angehörigen der NSU-Opfer und ihre Anwälte haben schon von Anfang an | |
darauf gedrängt, noch genauer der Frage nachzugehen, ob es weitere | |
Mitwisser und Helfer gab, insbesondere in den Städten, in denen die | |
Neonazis mordeten und Sprengsätze zündeten. | |
Die Bundesanwaltschaft hatte dagegen bei den Ermittlungen bisher keine | |
„Anhaltspunkte für eine Beteiligung ortskundiger Dritter an den Anschlägen | |
des NSU“ festgestellt. | |
## 4.000 ungeklärte Fälle | |
Doch nach den Aussagen von Carsten S. stellt sich auch diese Frage neu – | |
vor allem in Bezug auf Nürnberg, wo der NSU neben drei Morden nun auch noch | |
einen Bombenanschlag verübt haben könnte. Seit den 90er Jahren hatten die | |
Thüringer Neonazis enge Verbindungen in die Szene in Franken. „Ich glaube, | |
dass ein Kontakt im Raum Nürnberg vorhanden sein muss“, mutmaßte der | |
frühere bayerische Innenminister Günther Beckstein im | |
NSU-Untersuchungsausschuss. | |
Peinlich für die bayerische Polizei ist, dass sie seit dem Auffliegen des | |
NSU im November 2011 nicht selbst auf die Idee kam, dass der | |
Taschenlampen-Anschlag in Verbindung mit der Terrorgruppe stehen könnte. | |
4.000 ungeklärte Fälle vollendeter und versuchter Tötungsdelikte zwischen | |
1990 und 2011 haben die Behörden bundesweit noch mal überprüft, anhand | |
eines Rasters, ob die Opfer Migranten, links oder homosexuell waren. | |
Der Bombenanschlag in Nürnberg von 1999 war nicht darunter – er war damals | |
nicht als versuchter Mord oder Totschlag eingestuft worden. | |
14 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
Wolf Schmidt | |
Andreas Speit | |
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