# taz.de -- Unterdrückte Pressefreiheit in der Türkei: Presse? Auf sie mit Ge… | |
> Gewalt auf der Straße, Hausdurchsuchungen, innere Zensur – drei | |
> Journalisten erzählen, wie die Regierung Erdogan die Pressefreiheit | |
> unterdrückt. | |
Bild: Istanbul vorige Woche: Ein türkischer Fotograf kümmert sich um einen Ko… | |
ISTANBUL taz | Am Samstag hatte Onur Erem Glück. Der Reporter der linken | |
Tageszeitung [1][Birgün] war zwar auf der Straße, um von den [2][Protesten] | |
zu berichten. Aber mehr als die obligatorische Dosis [3][Reizgas] hat er | |
dieses Mal nicht abbekommen. Andere Journalisten kamen nicht so glimpflich | |
davon; mehrere wurden durch Plastikgeschosse, Tränengaspatronen und | |
Polizeiknüppel verletzt. Das sprechende Bild des Abends: der mit „Presse“ | |
beschriftete und in zwei Hälften zerknüppelte Helm des Reporters Ali | |
Basboga vom Fernsehsender [4][Hayat TV]. | |
Verletzt wurde auch Edda Sönmez von der rechtskemalistischen Tageszeitung | |
Sözcü. Eine Plastikkugel traf sie am Knöchel. Auf [5][Twitter schreibt | |
sie]: „Ein Polizist schoss auf uns. Wir hatten Kameras, riefen ’Presse‘. | |
Darauf drehte er sich um und schoss noch einmal.“ | |
Ähnliches hat Onur Erem eine Woche zuvor erlebt, als ihm ein Polizist mit | |
voller Wucht auf den Rücken knüppelte. Er hatte sich zusammen mit einem | |
Fotografen in in einer Seitengasse nahe des Taksimplatzes in einem | |
Hauseingang vor der vorrückenden Polizei versteckt. „Ich hatte ein | |
Presseschild um den Hals“, erzählt der 25-Jährige, dem die Aufregung noch | |
anzumerken ist. „Aber ich habe inzwischen den Eindruck, dass sich die | |
Polizei vom Hinweis auf die Presse nicht abhalten lässt, sondern dies als | |
Einladung zum Zuschlagen auffasst.“ | |
Diese Situation hat Erem mit einer an seinem Helm befestigten Kamera | |
aufgenommen. Der hinterrücks erfolgte Schlag ist auf dem [6][Video] jedoch | |
nicht zu sehen. Falls Erem Aufnahmen davon auffinden kann, möchte er | |
Strafanzeige erstatten. Hoffnung, dass diese verfolgt wird, hat er nicht. | |
## Wer drüben steht, ist ein Feind | |
Bei jeder [7][Demonstration] der vergangenen zehn Tage – so auch bei | |
Demonstration von Journalisten gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit | |
am Freitag – kam es zu gewaltsamen Übergriffen auf Pressevertreter. „Die | |
Vertreter der regierungsnahen Medien stehen hinter den Polizeireihen und | |
berichten von dort“, sagt Erem. Die oppositionellen Journalisten hingegen − | |
zu denen er in diesem Kontext auch Vertreter großer Blätter wie der | |
Hürriyet oder der Milliyet zählt −, würden das Geschehen aus der | |
Perspektive der Demonstranten verfolgen. „Und die Polizei behandelt jeden, | |
der ihr gegenübersteht, als Feind.“ | |
Zwischen den Demonstranten steht auch Murat Güler. Aber berichten darf er | |
nicht. Denn Güler arbeitet für ein regierungsnahes Medium, wozu die meisten | |
Fernsehsender, darunter die Nachrichtenkanäle Habertürk, NTV und CNN-Türk, | |
ebenso gehören wie die Blätter Zaman, Yeni Safak, Star, Habertürk, Takvim | |
und Sabah. | |
CNN-Türk blamierte sich zu Beginn der Proteste, als man unverdrossen eine | |
Dokumentation über [8][Pinguine] sendete, während CNN-International live | |
von den heftigen Ausschreitungen am Taksim-Platz berichtete. Seither hat | |
sich an der [9][mangelhaften] und [10][tendenziösen] Berichterstattung bei | |
den meisten Medien nichts verändert. Bei einigen darf das auch nicht | |
verwundern: So gehören der Fernsehsender atv sowie die Zeitungen Takvim und | |
Sabah der Çalik Holding. An deren Spitze steht seit seinem 29. Lebensjahr | |
Berat Albayrak, der Schwiegersohn des Ministerpräsidenten Recep Tayyip | |
Erdogan. | |
Das Revolverblatt Takvim fiel während der Proteste unter anderem mit einem | |
gefälschten [11][Interview] mit der CNN-Chefmoderatorin Christiane Amanpour | |
auf (Überschrift: „Schmutzige Bekenntnisse“); die, nun ja, etwas seriösere | |
und in Deutschland durch ihre [12][Klage] gegen die Akkreditierungspraxis | |
beim NSU-Prozess bekannt gewordene Sabah frohlockte am Tag nach der | |
[13][Räumung] des Gezi-Parks mit der [14][Schlagzeile]: „Guten Morgen, | |
Gezi!“ Dem Sender NTV wiederum gelang da die [15][Meldung]: „Der Gezi-Park | |
wurde wieder dem Volk übergeben. Derzeit wird es niemandem gestattet, den | |
Park zu betreten.“ | |
## Das Bitterste für einen Journalisten | |
Doch zu dieser Nachricht weiß Murat Güler noch eine andere Interpretation | |
als die naheliegende. „Vielleicht war das ein heimlicher subversiver Akt | |
eines Redakteurs“, meint er. | |
Auf ein Gespräch lässt sich Güler nur unter der Bedingung ein, dass sein | |
echter Name ebenso ungenannt bleibt wie der Name seines Arbeitgebers. | |
„Während der Besetzung des Gezi-Parks war ich jeden Tag dort“, erzählt er. | |
Aber in meiner Redaktion wollte man keine Beiträge von mir. Am Ende durfte | |
ich nicht einmal mehr Vorschläge auf der Konferenz machen.“ | |
Güler bezeichnet sich als „Liberaldemokraten“. Er ist um die 40 und schon | |
lange für seinen Arbeitgeber tätig. „Sonst mache ich fast jeden Tag etwas. | |
Aber zu den Protesten durfte ich nicht arbeiten und mit anderen Themen | |
wollte ich mich in dieser Situation nicht beschäftigen“, sagt er. Seit | |
Wochen hat er nichts veröffentlicht. Mehrfach hat er sein Material Kollegen | |
von anderen Medien zur Verfügung gestellt. „Können Sie sich etwas | |
vorstellen, das für einen Journalisten bitterer ist?“, fragt er. | |
## Die gleiche Kritik wie die Demonstranten | |
Seine Kritik an der Berichterstattung unterscheidet sich nicht groß von den | |
Vorwürfen der Protestbewegung: Übernahme der Regierungspropaganda, | |
verzerrte, mitunter erlogenen Berichte, hetzerische Kommentare, | |
Unterschlagung von Polizeigewalt, geringstmögliche Beachtung der Proteste. | |
Viele, vielleicht die Hälfte seiner Kollegen, würden ähnlich denken wie er. | |
„Aber die meisten haben sich arrangiert, auch einige der verantwortlichen | |
Redakteure. Intern Kritik geübt haben bei uns nur ein paar.“ | |
Am liebsten wäre es Güler, entlassen zu werden. „Vielleicht wäre es | |
aufrichtiger, wenn ich selbst kündigen würde. Aber auf meinen Anspruch auf | |
Abfindung kann ich nach so vielen Dienstjahren nicht einfach verzichten“, | |
sagt er. Er sympathisiert zwar mit den Demonstranten, aber wenn er zwischen | |
ihnen unterwegs ist, verrät er nicht, für wen er tätig ist. „Die Leute | |
schließen von den Medien auf die einzelnen Mitarbeiter“, meint er. Auch das | |
klingt verbittert. Dann räumt er ein: „Aber bei manchen trifft das ja auch | |
zu.“ | |
Womöglich gilt das auch für den Reporter des Senders Habertürk, der während | |
der Räumung des Parks live vorm [16][Divan-Hotel] berichtete, dass | |
„marginale Gruppen die Polizei provozieren“ würden und dafür vor | |
[17][laufender Kamera] von einem Demonstranten geohrfeigt wude. | |
## Die Folterer von früher | |
Ein solcher Übergriff aber ist bislang die Ausnahme geblieben. Ebenso | |
wurden bislang nur in wenigen Fällen rechtliche Schritte unternommen. | |
Mehrere kleine Fernsehsender − Hayat TV (sozialistisch), Halk TV | |
(sozialdemokratisch), Ulusal Kanal (linkskemalistisch) und Cem TV | |
(alevitisch) − erhielten [18][Geldstrafen]. Außerdem gab es eine Razzia bei | |
der prokurdischen Nachrichtenagentur Etha. | |
Die hat Arzu Demir aus der Nähe erlebt. Die 38-Jährige ist Türkin, hat ihre | |
15 Berufsjahre aber größtenteils bei Medien gearbeitet, die der kurdischen | |
Bewegung nahestehen. Einige Tage nach der [19][Räumung] des Gezi-Parks | |
standen frühmorgens Beamte der Abteilung für Terrorismusbekämpfung vor | |
ihrer Wohnungstür. Einen Durchsuchungsbefehl für das Büro der Etha, das | |
sich im selben Gebäude befinden wie ihre Wohnung, hatten sie dabei, einen | |
Befehl, Demir oder ihre Kollegin und Mitbewohnerin zum Verhör zu bringen, | |
nicht. | |
„Rechtlich gesehen hätten wir einfach gehen können“, erzählt Demir. | |
„Stattdessen wurden wir in unserer eigenen Wohnung 18 Stunden lang gefangen | |
gehalten. Nicht einmal einen Anwalt durften wir verständigen.“ | |
Als besonders erniedrigend empfand sie es, dass eine Polizistin Genitalien | |
und After kontrollierte. „So etwas gibt es sonst bei Drogendelikten, aber | |
nicht, wenn der Vorwurf auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung | |
lautet.“ In ihrer Agentur wurden alle Computer und sämtliches beschriebenes | |
Papier beschlagnahmt: Dokumente, Unterlagen, Bücher. „Von Althusser bis | |
Zola“, erzählt Demir. | |
Sie gehört zu den derzeit rund 2.100 der kurdischen Bewegung nahestehenden | |
[20][Personen], darunter 44 [21][Journalisten], die im Zusammenhang mit der | |
„Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK), dem zivilen Arm der | |
PKK-Guerilla, zum Teil abenteuerlichen Anklagen ausgesetzt sind. Unter den | |
angeklagten Journalisten zählt Demir zu wenigen, die sich auf freiem Fuß | |
befinden. | |
Bekanntschaft mit der türkischen Polizei hat sie schon mehrfach gemacht. | |
1996, in Zeiten, in denen in der Türkei Folter und „Verschwindenlassen“ von | |
Oppositionellen an der Tagesordnung waren, wurde sie in einem Polizeirevier | |
mit Elektroschocks an den Brüsten misshandelt. Einer der beteiligten | |
Polizisten sei heute stellvertretender Leiter der Istanbuler | |
Antiterror-Einheit, berichtet sie in einem Tonfall, als sei dies die | |
normalste Sache der Welt. „Die AKP spricht von einer ’fortgeschrittenen | |
Demokratie‘“, sagt Demir. „Aber was wir gerade erleben, erinnert an diese | |
überwunden geglaubte Zeit.“ | |
15 Jul 2013 | |
## LINKS | |
[1] /zeitung/genossenschaft/geno-international/tuerkei/ | |
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[5] http://twitter.com/edda_snmz | |
[6] http://onurerem.com/2013/07/07/parkimiza-gidiyoruz-eylemine-polis-saldirisi… | |
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[17] http://www.youtube.com/watch?v=Uayt7ytFh3o | |
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## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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