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# taz.de -- Rechtsanspruch auf Kita-Plätze: Der Kampf um den Ortskern
> „Wir sind nicht gegen Kitas“, sagt Nadja Weippert, die selbst ein Kind
> hat. Sie ist nur gegen diese Kita, an dieser Stelle. Ein Frontbesuch in
> Tostedt.
Bild: Aber bitte nicht vor meiner Haustür, finden einige in Tostedt.
TOSTEDT taz | Schwarze Wolken schließen sich über Tostedt; durch den
Nieselregen läuft eine junge Frau mit einem Kind an der Hand. Sie zieht
ihre gesteppte Lederjacke enger um sich, ihr blondierter Zopf wippt mit
jedem Schritt.
Die schmale Straße ist kopfsteingepflastert. Nadja Weippert überquert einen
kleinen Bach, dann hält sie inne und überlegt, was wird, wenn sie
scheitert. Wenn alles umsonst war, all die Arbeit, der ganze Ärger. „Es
wird anders sein“, sagt sie, „alles.“
Wenn es nach der Gemeinde geht, wird hier, an der Dieckhofstraße, eine neue
Kita entstehen, für 2,5 Millionen Euro. Eigentlich sollte sie bis zum
Stichtag 1. August fertig sein. Doch das Projekt ist ins Stocken geraten,
und das liegt an Nadja Weippert und zwei weiteren Frauen aus Tostedt. Sie
haben einen Bürgerentscheid erzwungen, die Anwohner mobilisiert und beim
Verwaltungsgericht Lüneburg Klage erhoben.
„Der Anwalt meint, unsere Aussichten sind gar nicht schlecht“, sagt sie.
Durch das Blattwerk sind Einfamilienhäuser zu sehen, Markisen,
Ziegelvordächer. Dann öffnet sich das Straßenbild. Unter Eschen und Linden
liegt eine Wiese; ringsum verwitterte Backsteinbauten. Das ist der
historische Ortskern, Standort der geplanten Kita.
## Ein Rechteck aus Sand
Ein Bauzaun hat bereits ein gutes Stück davon eingekastelt. Nadja Weippert
späht durch das Gitter auf ein Rechteck aus Sand, und wenn man sie fragt,
wie es sein kann, dass sie, eine junge Mutter, mit allen Mitteln gegen den
Bau einer Kita kämpft, zählt sie eine Liste von Gründen auf. Ihr geht es
vor allem um den Schutz des alten Ortskerns, und um die Zunahme des
Verkehrs, für den die Straße nicht ausgelegt ist. „Dieser Ort, das ist
etwas Erhaltenswertes, die grüne Lunge von Tostedt.“
Tostedt, ein Örtchen am Nordrand der Lüneburger Heide. Der Streit, der die
Kommune gespalten hat, ist verknüpft mit einem bundesweiten Problem: Noch
fehlt in vielen Orten die Infrastruktur, um das Versprechen der Regierung
einzulösen. Das Familienministerium geht davon zwar aus, dass die Zahl der
Plätze im Laufe des Kita-Jahres 2013/14 auf 813.093 steigen wird. Das sind
weit mehr als erwartet. Doch die Angebote sind regional sehr
unterschiedlich verteilt.
Nicht nur, dass es oft an Geld, Flächen und Personal fehlt. Manchmal sind
es auch Anwohner, die den Bau von Kitas verhindern wollen. Kinderlärm ist
kein Klagegrund mehr, doch es gibt andere Wege. In Tostedt argumentieren
die Kläger mit dem Denkmalschutz und dem Baurecht. Doch das ist nur die
halbe Geschichte. Wer eine Weile in Tostedt unterwegs ist, spürt, dass es
auch um größere Fragen geht: Wer darf bestimmen, was in einer Wohnsiedlung
geschieht? Zählt das Wohl der Allgemeinheit in jedem Fall mehr als die
Interessen Einzelner? Und wer legt fest, wer die Allgemeinheit ist – und
was zu ihrem Wohl?
## Des Bürgermeisters ehrgeizige Pläne
Seit Monaten köchelt die Wut. Die Stimmung hat sich aufgeladen. „Ich muss
das freundlich sagen, ich bin schließlich Samtgemeinde-Bürgermeister“, sagt
Dirk Bostelmann in seinem Büro. „Das sind Anwohner, die sich klassisch
verhalten. Die denken, dass ihre Immobilien an Wert verlieren.“ Dirk
Bostelmann, CDU, ist ein älterer Herr im grauen Anzug. Durch das
Strebenfenster hinter ihm ist ein Ausschnitt des Ortes zu sehen, ein Stück
Rasen, die weiß getünchte Polizeiwache wie aus einer
Modelleisenbahn-Landschaft.
Doch Bostelmann steht unter Druck dieser Tage. In Tostedt gibt es 459
Kinder zwischen eins und drei, und 120 Betreuungsplätze. Zwar hat die
Kommune einen ehrgeizigen Ausbauplan gefasst: Bis 2014/15 will sie 195
Plätze anbieten. In der Dieckhofstraße sollen 30 Plätze für unter
Dreijährige entstehen, und zusätzlich 60 für über Dreijährige. Nun jedoch
könnte es eng werden. „Sorgen mache ich mir nicht“, sagt Bostelmann. „ab…
ich bin schon traurig. Wir könnten jetzt so einen schönen Kindergarten
haben.“
Allerdings hat er selbst einen Anteil daran, dass der Streit eskaliert ist.
Im Herbst haben die Initiatorinnen des Bürgerbegehrens ihre
Unterschriftenlisten ausgelegt, da schrieb Dirk Bostelmann einen Brief an
Geschäftsleute und Gastwirte: „Leider muss ich feststellen, dass Sie ihr
Geschäft für die Auslage von Unterschriftenlisten zur Verfügung gestellt
haben.“ Viele sahen das als Versuch, die Initiative zu behindern. Aber ein
Bürgerentscheid ist ein demokratisches Recht. Bostelmann beteuert, dass es
ihm nur um einen Gesprächstermin ging. „Das ist uminterpretiert worden in:
Der hat die unter Druck gesetzt.“
Bostelmann atmet tief ein und aus; er erkennt seine Kommune kaum noch
wieder, sogar seine Mutter hat böse Anrufe erhalten. „Die ist 83 Jahre
alt!“, ruft er, die Augenbrauen vibrieren hinter seiner Brille. „So was
hat’s hier noch nicht gegeben.“
## Baulärm ist zu hören
Nadja Weippert ist vor zwei Jahren mit Mann und Kind in ihr Elternhaus
gezogen. Sie hat es saniert und neu eingerichtet, mit dunklem Laminat und
Vorhängen aus rotem Stoff. Auf den Tisch stellt sie Kaffee und einen Teller
mit Plätzchen. Eine weitere Initiatorin ist dazugekommen. Tamara
Boos-Wagner ist SPD-Mitglied, nach wie vor, auch wenn der Ortsverband sie
spüren lässt, dass sie nicht mehr willkommen ist.
Sie breiten Unterlagen vor sich aus. Es rumpelt auf der Straße. „Das ist
ein Baufahrzeug“, sagt Boos-Wagner, Weippert nickt, „als wenn ’ne U-Bahn
vorbeifährt.“ Es gibt nicht mehr viel, was sie noch tun können. Mit dem
Bürgerbegehren sind sie gescheitert. Zwar haben 3.350 Menschen gegen die
Kita gestimmt. Das ist viel in einem Ort mit 13.000 Einwohnern, aber nicht
genug. Wenn die Klage abgewiesen wird, bleibt noch eine Instanz, das
Oberverwaltungsgericht. „Da gehen wir auch noch hin“, sagt Nadja Weippert.
Für sie geht es inzwischen auch um Politik, um ihr Verständnis von
Demokratie. „Vor den Kommunalwahlen 2011 haben sich alle Parteien dafür
eingesetzt, den Ortskern zu erhalten. Also haben im Grunde alle Wahlbetrug
begangen.“ Sie ist gelernte Versicherungskauffrau, Hausfrau seit der Geburt
ihres Sohnes vor drei Jahren. Jetzt weiß sie, wie man Einwendungen macht
und B-Pläne liest. Doch sie wirkt angespannt. „Man wird automatisch
geächtet“, sagt sie. „Wir wurden als Kinderhasser bezeichnet.“ Aber die
Frauen sehen nicht ein, warum die Kita nicht anderswo gebaut wird, in einem
der Neubaugebiete am Ortsrand, wo sich viele Familien angesiedelt haben.
„Es tut nicht not“, sagt Boos-Wagner, „dass man den letzten grünen Fleck…
Zentrum verschandelt.“
## „Wie früher die Pharaonen“
Es kommen aber auch noch andere Einwände hinzu, die hohen Kosten und die
Frage, ob die Kita so überhaupt gebraucht wird. Auch die Grünen sind gegen
das Projekt; für Kinder über drei gibt es nämlich schon mehr als genug
Angebote, sagt der Grüne Peter Dörsam. Ihm kommt es so vor, als baue
Bostelmann nur aus „Geltungsdrang“. „Wie früher die Pharaonen.“
Tatsächlich gibt es nach Zahlen der Gemeinde bereits eine fast
100-prozentige Deckung für über Dreijährige. Der Landkreis geht sogar von
einem Überangebot aus. Warum also noch mehr Plätze für diese Altersgruppe?
Dirk Bostelmann legt die Stirn in feine Fältchen. Er sagt, dass die Zahlen
auch reine Nachmittagsplätze oder Angebote in abgelegenen Ortsteilen
enthalten.
Es gibt noch einen anderen Faktor: Bostelmann will seine Kommune
„familienfreundlich“ nennen. Ihm schwebt eine Zukunft vor, in der Tostedt
ein attraktiver Wohnort ist für Pendler von außerhalb. Hamburg liegt nur
eine halbe Stunde weit weg. Aber Bostelmann weiß, dass Tostedt auch eine
gute Infrastruktur braucht, wenn die Zuzügler kommen sollen. „Und dazu“,
sagt er, „gehören Krippen und Kitas.“
## Nachfrage besteht – innerstädtisch
So sieht es auch Hanka Bliwernitz. Die junge Frau eilt in ein Café im
Zentrum. Sie setzt sich, ohne etwas zu bestellen. Vor einem Jahr hat sie
Zwillinge geboren; ab August kommen sie in die Kita. „Ich hab Glück
gehabt“, sagt sie.
Hanka Bliwernitz ist Ärztin, ihr Mann CDU-Mitglied und 2011 bei den
Kommunalwahlen angetreten. Sie ist auf eine Ganztagsbetreuung für ihre
Töchter angewiesen, denn bald will sie ihre Facharztausbildung beenden.
„Das Problem war, dass rund 100 Eltern auf der Warteliste standen“, sagt
sie. Als sie dann hörte, dass sich Widerstand gegen die Kita an der
Dieckhofstraße formiert, war es für sie Zeit, selbst aktiv zu werden. „Ich
konnte das nicht fassen. Wo es überall heißt: Wir brauchen Kitas.“
Also gründete sie eine Elterninitiative für das Projekt. „Es gab keine
vernünftigen Argumente gegen den Standort. Die Nachfrage besteht in
Tostedt. Die Eltern wollen nicht in die Randgebiete.“ Auch den Einwand, es
würden Gelder verschwendet, versteht sie nicht. „Die Gemeinde will eine
Kita bauen, um sich attraktiver zu machen. Es ist doch super, wenn man
weiß, man kann hier gut leben.“ Hanka Bliwernitz spricht konzentriert, sie
ist vorsichtig geworden. Einmal hat die Gegenseite sie schon verklagt, weil
auf einem ihrer Flyer stand, die Initiatorinnen seien gegen Kitas.
„Wir sind nicht gegen Kitas“, sagt Nadja Weippert. Nur gegen diese Kita, an
dieser Stelle. Mit Tamara Boos-Wagner steht sie vor ihrem Haus. Bis zu der
Baustelle sind es knapp fünf Minuten, eine Senioren-Wohnanlage liegt auf
dem Weg. Eine ältere Frau kramt nach ihrem Schlüssel. Was sie über das
Projekt denkt? „Wir halten gar nichts davon. Weil wir hier nachher Lärm
kriegen.“ Dann fällt ihr Blick auf die Frauen. „Ich wünsch ihnen viel
Glück“, ruft sie. Die beiden lächeln matt, Boos-Wagner ruft zurück: „Wir
machen weiter.“...
25 Jul 2013
## AUTOREN
Gabriela Keller
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