# taz.de -- Bildungsforscher über Aufklärung: „Wir müssen Ungewissheit aus… | |
> Gerd Gigerenzer möchte Menschen stärker und riskikobereiter machen. Er | |
> empfiehlt dafür Wissen, Kompetenz, Mut und das richtige Bauchgefühl. | |
Bild: Man kann nicht immer genau wissen, wo es lang geht. | |
taz: Herr Gigerenzer, mit Ihrem neuen Buch sprechen Sie auf witzige und | |
unterhaltsame Weise Leute an, die sich um ihre Gesundheit und um ihr Geld | |
Sorgen machen. Also fast alle. Hat es darüber hinaus eine Mission? | |
Gerd Gigerenzer: Das Buch versucht vor allem, einen Beitrag zur Aufklärung | |
zu schaffen: die Bürger stärker und weniger ängstlich zu machen, | |
risikobereiter und damit ihre Abhängigkeit von Experten, der Politik und | |
anderen Formen von „Leitung“ zu verkleinern. Das bedeutet auch den Mut, | |
selbst zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Meine Vision von | |
einer Demokratie besteht darin, eine möglichst breite Basis von Wissen und | |
Kompetenz in der Bevölkerung zu schaffen. | |
Wie schadet uns die Abhängigkeit von Experten? | |
Das möchte ich mal am Beispiel Krebs veranschaulichen. Wir geben Milliarden | |
aus im Kampf gegen Krebs, sehr viel davon für Früherkennung und neue | |
Medikamente. Die Früherkennung senkt die Sterblichkeit nicht oder nur | |
minimal. Die neuen Medikamente haben zwar bei einigen wenigen Krebsarten | |
geholfen, aber bei den meisten verlängern sie das Leben nur um ein, zwei | |
Monate und senken die Lebensqualität. | |
Also was kann man tun? | |
Die beste Waffe gegen Krebs würde darin bestehen, junge Menschen zu bilden | |
und sie in die Lage zu versetzen, ihren Lebensstil selbst in die Hand zu | |
nehmen. Etwa 20 bis 30 Prozent der Krebsfälle sind durch Rauchen bedingt, | |
10 bis 20 Prozent durch Fettleibigkeit, und bei Männern 10 Prozent durch | |
Alkoholmissbrauch. Wenn wir das in den Griff bekommen, könnten wir etwa die | |
Hälfte aller Krebsfälle verhindern. Und das wäre wesentlich mehr als mit | |
den bisher angewendeten Methoden. | |
Bloß durch eine Bildungsreform? | |
Zu den wesentlichen Inhalten einer modernen Bildung gehört für mich | |
Risikokompetenz, und zwar nicht nur im Umgang mit modernen Technologien, | |
wie zum Beispiel digitalen Medien, sondern auch mit der Gesundheit. Man | |
muss früh anfangen, mit Programmen in der Schule. Im Buch „Risiko“ handelt | |
das letzte Kapitel von dieser Vision. Früh bedeutet: vor der Pubertät. | |
Essgewohnheiten, Trinkgewohnheiten, Rauchen, das bildet sich alles sehr | |
früh aus. Ich arbeite mit der niederländischen Krebsgesellschaft zusammen | |
an einem Schulprogramm in Groningen, in einem Bezirk, in dem besonders | |
viele Kinder zu dick und bildungsschwach sind. Ich würde das auch gerne in | |
Deutschland sehen. | |
Menschen ändern, indem man einfach neue Inhalte lehrt? | |
Indem man sie risikokompetent macht. Dazu gehört Gesundheitskompetenz. Und | |
hier lernen Kinder nicht nur mit dem Kopf, sondern sie lernen, am Kochen | |
und am Sport Freude zu haben. Außerdem beschäftigen sie sich mit ihren | |
Emotionen. Sie lernen nicht nur, was die Hauptstadt von Bolivien ist, | |
sondern sie erfahren auch etwas über sich selbst: Wie ticke ich jetzt und | |
wie werde ich als Fünfzehnjähriger ticken. Wir machen ihnen klar, dass sie | |
mit fünfzehn wahrscheinlich unsicher sein werden und ihnen furchtbar viel | |
daran liegen wird, bei Gleichaltrigen Anerkennung zu finden. Das kann schon | |
ein Zehnjähriger verstehen und er sieht es ja auch in seiner Umgebung. | |
Diese Gefühle nutzt ja die Alkohol- und Zigarettenwerbung aus. Sie zeigt | |
nicht einen einsamen Menschen, der trinkt oder raucht, sondern einen, der | |
umringt und bewundert von anderen trinkt. Und wenn wir schon jungen | |
Schülern an Beispielen zeigen, wie profitorientierte Unternehmen sie später | |
gerne zu schädlichen Lebensweisen verführen möchten, dann werden sie besser | |
gegen diese Manipulationen gewappnet sein. | |
Man hat in Ihrem neuesten Buch manchmal den Eindruck, dass Sie geradezu | |
einen Feldzug gegen das Brustkrebsscreening führen. Bei 1.000 Frauen, die | |
im Laufe von 20 Jahren diese Tests regelmäßig durchführen, werden bei 50 | |
Frauen bösartige Tumore entdeckt, davon 35 im Zuge des Screenings. Spricht | |
das nicht für die Methode? | |
Das Ziel des Screenings ist nicht einfach die Entdeckung von Krebs, sondern | |
Frauen vor dem Tod durch Krebs zu schützen. Wie hoch ist dieser Nutzen? | |
Darüber sind die deutschen Frauen europaweit am schlechtesten informiert, | |
schlechter als etwa die russischen Frauen. Die Studien über den Nutzen sind | |
ziemlich eindeutig: Von je 1.000 Frauen, die im Laufe von 10 Jahren nicht | |
zum Screening gehen, sterben etwa 5 an Brustkrebs. Und von je 1.000 Frauen, | |
die hingehen, 4. Das wird jedoch oft als „20 Prozent Reduktion“ | |
dargestellt. | |
Ich kritisiere den emotionalen Druck, mit dem man Frauen zum Screening | |
treibt, statt ihnen Nutzen und Schaden ehrlich zu erklären, sodass jede | |
Frau selbst eine informierte Entscheidung treffen kann. Ich bin gegen die | |
Missinformation und den Paternalismus, mit dem diese Sache betrieben wird. | |
Und wenn eine Frau einen „positiven“ Befund hat? | |
Es ist wichtig, zu verstehen, dass das nicht bedeutet, dass man an | |
Brustkrebs erkrankt ist. Von 10 Frauen mit einem positiven Screening-Befund | |
hat nur etwa eine Brustkrebs. Viele Ärzte aber meinen fälschlicherweise, | |
dass 9 von je 10 Frauen Krebs haben. Durch dieses Missverständnis werden | |
immer wieder Frauen in große Angst versetzt. Mammografie ist kein besonders | |
zuverlässiger Test, und wer regelmäßig teilnimmt, muss mit einem falschen | |
Alarm rechnen. | |
Einerseits fordern Sie die Leute auf, sich mehr und bessere Informationen | |
zu verschaffen, und andererseits machen Sie ihnen in Ihrem Buch Mut, sich | |
nicht von Informationen überfluten zu lassen, sondern lieber ihrem | |
Bauchgefühl zu vertrauen. Ist das nicht ein Widerspruch? Oder gibt es eine | |
Faustregel dafür, wann man das eine oder das andere macht? | |
In manchen Situationen sind die Risiken bekannt und in anderen nicht. Wenn | |
Sie ins Kasino gehen, dann brauchen Sie keine Intuition: Sie können sich | |
ausrechnen, wie viel Sie verlieren werden. Wenn die Risiken aber nicht | |
bekannt und nicht berechenbar sind, dann brauchen Sie ein gutes | |
Bauchgefühl. Wenn Sie jemanden heiraten möchten, dann können Sie ja nicht | |
wissen, was es alles an Alternativen zu diesem Menschen für Sie gäbe und | |
was diese für Sie bedeuteten. In der Welt der Finanzen kann man heutzutage | |
die Risiken komplexer Anlagen kaum mehr berechnen. | |
Bauchgefühl brauchen Sie auch, wenn Sie wenig Zeit für eine Entscheidung | |
haben. Wie der Pilot Chesley Sullenberger, der vor einigen Jahren eine | |
Passagiermaschine in New York auf dem Hudson-River wasserlanden ließ. Ihm | |
war eine Schar Gänse in die Turbinen geflogen. Um anweisungsgemäß zu | |
handeln, hätte er erst noch zu viele Seiten an Instruktionen durcharbeiten | |
müssen. | |
Gibt es eine Faustregel, wann man seinem Arzt vertrauen kann und wann | |
nicht? | |
Man kann seinem Arzt vertrauen, wenn er oder sie erstens die medizinische | |
Forschung kennt, sich zweitens in keinem Interessenkonflikt befindet – zum | |
Beispiel zwischen dem Wohl des Patienten und unnötigen IGeL-Leistungen, die | |
Zusatzverdienst bringen – und drittens wenn er keine defensive Medizin | |
betreibt. | |
Was heißt Letzteres? | |
Dass sich der Arzt vor Ihnen als Patient schützt, um nicht verklagt zu | |
werden. Er wird also lieber zu viel tun als zu wenig, wird Ihnen zu Tests, | |
bildgebenden Verfahren, Biopsien oder Operationen raten, die er seiner | |
eigenen Frau, dem Bruder oder der Tochter niemals zumuten würde. Nur damit | |
ihm hinterher niemand nachsagen kann, nicht alles Menschenmögliche getan zu | |
haben. Das ist nicht die Schuld der Ärzte, sondern das liegt am System. In | |
den USA geben über 90 Prozent aller Ärzte zu, dass sie defensive Medizin | |
betreiben. | |
Und nun die Faustregel! | |
Fragen Sie Ihren Arzt immer: Was sind die Alternativen? Und was ist der | |
Vor- und Nachteil jeder dieser Alternativen? Wenn die Antwort „50 Prozent | |
Reduktion“ lautet und Sie das nicht verstehen, dann sagen Sie: Bitte | |
erklären Sie mir das in absoluten Zahlen! Von hundert Patienten, die dieses | |
Medikament nahmen, wie viele hatten einen Schlaganfall? Und wie viele von | |
denen, die es nicht nahmen? | |
Dann gibt es noch eine Faustregel, die ich als nützlich empfunden habe. Als | |
meine Mutter auf einem Auge blind wurde, fragte ich einen Spezialisten, ob | |
er eine kontroverse Behandlung, die sogenannte fotodynamische Therapie | |
empfehlen würde. Er meinte, ja. In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich | |
die falsche Frage gestellt hatte. Ich fragte also nochmals: „Ich habe nur | |
eine Mutter. Wenn es Ihre wäre, was würden Sie machen?“ Wie aus der Pistole | |
geschossen kam seine Antwort: „Oh, ich würde erst mal nichts tun und | |
abwarten.“ Der Arzt wusste, dass seine Mutter ihn nicht verklagen würde, | |
nicht aber, ob ich es vielleicht tun würde. | |
Was sind für den Menschen die Grundbedingungen, damit er so viel | |
Ungewissheit aushalten kann? | |
Menschen haben viele Methoden erfunden, um Ungewissheit zu verdrängen. Wir | |
versichern uns gegen alles, schwören auf Horoskope, beten zu Gott und | |
sammeln Terabytes von Informationen, um unsere Computer in Kristallkugeln | |
zu verwandeln. Statt Illusionen der Gewissheit zu schaffen, sollten wir den | |
Mut fassen, den Risiken ins Auge zu sehen. Ungewissheit aushalten zu | |
können, ist, was uns zum mündigen Bürger macht. | |
4 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
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