# taz.de -- SS-Massaker in Italien: Die Stille von Sant'Anna | |
> Am 12. August vor 69 Jahren ermordete die SS fast alle Bewohner eines | |
> Dorfes in der Toskana. Enrico Pieri überlebte. Vor kurzem erhielt er | |
> hohen Besuch. | |
Bild: Enrico Pieri vor den Gedenksteinen seiner ermordeten Eltern und Schwester… | |
SANT'ANNA DI STAZZEMA taz | Enrico Pieri steht auf einer Steinplatte, | |
darunter befinden sich die Knochen von mehreren hundert Menschen. Ein | |
Ossarium. Am höchsten Punkt von Sant’Anna di Stazzema erhebt sich das | |
Mahnmal, in dessen Öffnung ein Marmorsarkopharg mit Steinrelief steht. Eine | |
liegende Frau mit Kind im Arm. | |
Pieri krallt sich in ihren Locken fest und blickt über die dunkelgrünen | |
Bergrücken der Apuanischen Alpen ringsum. Er lauscht. „Hörst du“, sagt er. | |
„Hörst du die Stille?“ | |
Die Stille in Sant’Anna, einer ehemaligen Hirtensiedlung in der | |
toskanischen Provinz Lucca, ist eine von Menschen gemachte Stille. „Nach | |
dem 12. August 1944 haben die Frauen nur noch selten gesungen, wenn sie das | |
Getreide vor unserem Haus schlugen“, sagt Enrico Pieri und zeigt hinab auf | |
eines der grauen Feldsteinhäuser am Hang. | |
Der 79-Jährige sieht aus, wie man sich einen italienischen Bauern | |
vorstellt: faltiges Gesicht, braun gebrannt, das abgetragene Poloshirt | |
spannt um seinen Bauch. An diesem Vormittag ist er in seiner Ape, einem | |
dreirädrigen Kleintransporter, die Serpentinen hochgefahren, bei besonders | |
holprigen Kurven macht er hööööö, schleckt sich über die Lippen und lacht | |
beglückt. | |
## Ermittlungen eingestellt | |
Er ist einer der wenigen, die den 12. August 1944 überlebt haben. Etwa 220 | |
Soldaten der SS und der Wehrmacht ermordeten an jenem Tag mehr als 500 | |
Menschen und verbrannten die Leichen, Tiere, Häuser, Ställe. „Sie kamen aus | |
drei Richtungen ins Dorf gestürmt“, sagt Pieri und zeigt auf die Berghänge. | |
„Von da, da und da“, er dreht sich im Halbkreis. Über zwei Drittel der | |
Opfer waren Frauen und Kinder, die vor den Bombardements der Alliierten in | |
die Berge geflüchtet waren. | |
Die Wahrheit über Sant’Anna blieb jahrzehntelang in einem „Schrank der | |
Schande“ verborgen. Erst 2005 verurteilte das Militärgericht in La Spezia | |
zehn SS-Männer in Abwesenheit – doch Deutschland liefert nicht aus, und im | |
Oktober letzten Jahres stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart nach zehn | |
Jahren die Ermittlungen gegen die noch acht lebenden Beschuldigten ein. | |
Enrico Pieri ist einer, der Stillstand nicht erträgt, der jeden Tag in die | |
Berge hochrattert und dort in seinem Garten gräbt. Im Januar reiste er nach | |
Stuttgart, um der Staatsanwaltschaft eine Beschwerde über die Einstellung | |
des Verfahrens zu überreichen. „Ich will keine Rache“, sagt Pieri. „Ich | |
will nur Gerechtigkeit.“ | |
## Den Geruch von gebratenem Fleisch erträgt er nicht | |
Flink läuft er die eng gewundenen Bergpfade hinunter zur Dorfpiazza, bleibt | |
dort stehen und sagt die Sätze auf, die er schon viele Male gesagt hat. Wie | |
die Deutschen die Menschen im Dorf zusammengetrieben und niedergeschossen | |
haben. Wie sie Kirchenbänke herausrissen, auf die Toten warfen, Benzin | |
darübergossen und den Leichenberg in Brand steckten. „Am nächsten Tag | |
zählte der Pfarrer aus dem Nachbarort auf dem Kirchplatz 132 verkohlte | |
Leichen.“ Wenn seine Frau Fleisch brät, meidet Pieri noch heute die Küche. | |
Enrico Pieri erzählt seine Geschichte, als wäre es die eines anderen. Doch | |
als er in der Küche seines Elternhauses steht, erreicht sie ihn doch. | |
Es riecht nach Staub. Ein offener Kamin, daneben Blumenschalen mit | |
vertrockneten Stängeln. „Das ist mein Ofen. Das ist mein Tisch“, sagt | |
Pieri, zeigt auf die verstaubten Möbel, die Bretter knarren unter seinen | |
Schritten. „Da saßen wir, als …“ Plötzlich hält er inne, ballt seine H… | |
zu Fäusten. Er stürzt zur Tür hinaus in den Hof, hält sich an der | |
Steinmauer fest und wischt sich den Schweiß von der Stirn. | |
## Die Nachbarsmädchen | |
Am Morgen des 12. August 1944 ist Enrico Pieri früh aufgestanden. Sein | |
Vater hat am Abend zuvor eine Kuh geschlachtet und wartet auf den Metzger. | |
Er spaziert durch den Wald, kommt bald zurück, weil er deutsche Stimmen | |
gehört hat. „Eine Kuh zu töten war ein Verbrechen“, sagt Pieri. „Deshalb | |
blieb mein Vater bei uns, um uns zu schützen.“ Als sich die Nachricht von | |
den nahenden Deutsche herumspricht, fliehen viele Männer in den Wald. Sie | |
fürchten eine jener Razzien, bei denen Zwangsarbeiter rekrutiert werden. | |
Dann sieht Pieri Leuchtraketen explodieren – das Zeichen für den Angriff. | |
Soldaten bollern an die Tür und brüllen „Rrrrraus“, erinnert sich Pieri. | |
Sie treiben ihn, seine Eltern, die beiden Schwestern und Nachbarn den Pfad | |
in Richtung Kirchplatz, dann stoßen sie sie zurück in die Nachbarsküche. | |
„Die Soldaten haben sofort geschossen“, sagt er. Er hört ein Flüstern. | |
Grazia, das Nachbarsmädchen, hat sich unter der Treppe versteckt, sie zieht | |
Pieri zu sich. Zwischen den Holzbrettern sehen die Kinder, wie die Soldaten | |
ihre Familien ermorden. Sie werfen Stroh auf die Leichen, zünden es an und | |
ziehen lärmend weiter. | |
In dem brennenden Haufen bewegt sich noch etwas, das ist Gabriella, Grazias | |
kleine Schwester. Sie hat sich fallen lassen, als die Soldaten zu schießen | |
begannen, und unter den Leichen versteckt. Pieri und Grazia ziehen sie | |
zwischen den Toten hervor und stürzen ins Freie. „Der Rauch hatte uns schon | |
fast vergiftet“, sagt Pieri. Im Schutz des Bohnengestänges schauen die | |
Kinder zu, wie Haus und Familie niederbrennen. Stundenlang verharren sie | |
aus, bis die Schüsse und das Krachen der einstürzenden Häuser verhallen. | |
## Nachwuchs gewünscht | |
Seitdem ist es still in Sant’Anna. Enrico Pieri und ein anderes Kind kamen | |
in ein Waisenhaus nach Lucca, es gab fast nichts zu essen. Bald rissen die | |
beiden aus. „Wir wollten nach Hause.“ | |
Nur wenige Männer hatten das Massaker überlebt, darunter Enricos Onkel. | |
Pieri half ihm, das Elternhaus und die Wasserstelle im Dorf wieder | |
aufzubauen. Dann schwirrten die Männer aus in die umliegenden Ortschaften, | |
auf der Suche nach Frauen. „Wir wollten wieder Leben ins Dorf bringen“, | |
sagt Pieri. Doch nach Sant’Anna, dahin gingen nur etwa 20 bis 30 Frauen | |
mit. Pffff, macht Pieri und winkt ab, überwiegend alte, hässliche, die | |
niemand haben wollte. | |
Mit 17 Jahren zog er an die Küste und arbeitete als Schlosser auf einer | |
Werft. Pieri wollte mit seiner Vergangenheit brechen, tagliare, sagt er und | |
zeichnet einen Schnitt in die Luft. Er heiratete, bewarb sich im Ausland | |
und bekam eine Zusage aus Biel, einer deutsch-französischen Stadt in der | |
Schweiz. | |
Sohn Massimo, heute 50 Jahre alt, ist jemand, der selbst die | |
kompliziertesten Menschen zum Lachen bringt. Sein Vater schickte ihn | |
ausdrücklich auf eine deutsche Schule, und mithilfe seines Sohns gelang es | |
Enrico Pieri, den Groll gegen Deutschland und das Schaudern, das ihn | |
packte, wenn er jemanden Deutsch reden hörte, zu überwinden. Über die | |
Ereignisse, sagt Massimo Pieri, habe sein Vater kaum gesprochen: „Ich kenne | |
seine Geschichte nur von Diskussionsrunden.“ | |
1992 zog Pieri zurück in die Toskana, in eine kleinen Küstenstadt in der | |
Nähe von Sant’Anna. Morgens, wenn noch ein angenehm kühles Lüftchen weht, | |
trinkt er meist einen Cappuccino mit seinem Freund Ennio, der wie er das | |
Massaker überlebt hat. Jeden Tag um halb eins, nachdem er Kaninchen und | |
Garten versorgt hat, tischt seine Frau Mittagessen auf, an diesem Tag | |
Spaghetti all’aglio e olio, danach gebratenes Rindfleisch mit Kartoffeln, | |
Aprikosen und Schokokuchen. Dann radelt sie an den Strand und er fährt in | |
den Wald. „Ich bin ein Bergmensch“, sagt er, „da oben fühle ich mich woh… | |
## Gauck und Napolitano | |
Pieris Welt besteht aus Zitronen- und Aprikosenbäumen, Gemüsebeeten, | |
Schaufeln und Spaten. Hochtrabende Worte und Höflichkeitsformeln sind nicht | |
seine Stärke. Als ihn im Winter Staatspräsident Giorgio Napolitano empfing, | |
duzten sich die beiden nach kurzer Zeit. Napolitano überredete Pieri, einen | |
Brief an Gauck zu schreiben, um ihn zum 70. Jahrestag des Massakers nach | |
Sant’Anna einzuladen. „Oooooh“, macht Pieri und lacht. „Das war viellei… | |
eine Überwindung – ich und einen Brief schreiben.“ | |
Als Gauck seinen italienischen Kollegen empfing, ging er noch am selben | |
Abend auf Pieris „berührende“ Zeilen ein. „Wenn wir – hoffentlich geme… | |
– Sant’Anna besuchen könnten, würde mich das sehr bewegen“, sagte Gauck. | |
Zwei Wochen später fuhren die zwei Präsidenten in einem schwarzen, dicken | |
Auto den kurvigen Asphaltweg hoch in die Berge. | |
Vor dem Ossarium bat Gauck um Entschuldigung für das Versagen der deutschen | |
Justiz. Pieri haben Gaucks Worte gefallen, „aber gebracht hat uns das auch | |
nichts“, sagt er. Dann schwingt er seinen rechten Arm und reibt die Finger | |
aneinander. „Geld, wir brauchen Geld. Für das Museum. Und irgendjemand muss | |
ja den Ort pflegen.“ | |
Bis vor zwei Jahren hat er das gemacht. Pieri zeigt auf die dicht | |
bewaldeten Hänge rund um das Mahnmal. „Früher waren die alle | |
bewirtschaftet“, sagt er. Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz hat er damit | |
weitergemacht. Zweimal pro Tag knatterte er mit seinem Ape zum Haus der | |
Eltern hoch und goss, grub, jätete, säte. Schleifte die Gießkanne vom | |
Dorfbrunnen bis zu seinem Feld hoch. Jetzt haben sich Städter einige der | |
Steinhäuser hergerichtet. Am Wochenende spannen sie ihre blauen, roten, | |
gelben Sonnenschirme im Garten auf. Doch man hört keine Frauen mehr singen, | |
während sie das Getreide schlagen. Niemand wagt es, hier oben Akkordeon zu | |
spielen. Die Rufe der Besucher verhallen in der unendlichen Weite der | |
Apuanischen Alpen. Es still geworden in Sant’Anna di Stazzema. | |
11 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Julia Maria Amberger | |
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