| # taz.de -- Neues Buch von Peter Stamm: Im engen Tal | |
| > In „Nacht ist der Tag“ besticht der Schweizer Autor Peter Stamm durch | |
| > kühle Grausamkeit. Seinen Figuren hängt der Mühlstein der Zeit um den | |
| > Hals. | |
| Bild: In Peter Stamms Romanen gibt es keine größere Katharsis. | |
| Am Ende dann, oder zumindest ganz kurz davor, heißt Gillian der Einfachheit | |
| halber Jill und hört einen alten, traurigen Fado: Aus dem Autoradio singt | |
| Amália Rodrigues. „Was für eine sonderbare Art zu leben hat mein Herz“, | |
| übersetzt Fahrer Marcos etwas unchronologisch, „einsames Herz, unabhängiges | |
| Herz, über das ich nicht befehle. Wenn du nicht weißt, wohin du gehst, | |
| wieso willst du dann unbedingt laufen.“ | |
| Und dann haben wir plötzlich ein paar Sätze in der Hand, die wie eine Summe | |
| von Peter Stamms neuem Roman „Nacht ist der Tag“ wirken. Hier zieht sich | |
| der Roman zusammen, verdichtet sich zu einer Stimmung, die ihn vorher lose | |
| durchzog. | |
| Jill hört das Lied auf dem Weg zu einer herzlich unpassenden Veranstaltung, | |
| einem Goa-Rave mitten im Engadin. Auf diesem nimmt sie noch irgendeine | |
| Pille und löst sich vollends ab von dem, was wir auf 240 Seiten zuvor | |
| gelesen haben. Vielleicht liegt es am Fado, jedenfalls blickt Jill hernach | |
| mit neuer Nüchternheit auf ihr Leben. | |
| ## Schwere Gesichtsverletzungen | |
| Über drei Akte sind wir in das Engadin gekommen: Jill startet als Gillian | |
| und liegt im Krankenhaus. Sie hat – anders als ihr Mann – einen Autounfall | |
| überlebt und schwere Gesichtsverletzungen davongetragen. | |
| Jetzt braucht sie eine neue Nase und ihr dämmert eine Erkenntnis: „Das | |
| Leben vor dem Unfall war eine einzige Inszenierung gewesen. Ihr Job, das | |
| Fernsehstudio, die schönen Kleider, die Städtereisen, die Essen in guten | |
| Restaurants, die Besuche bei ihren Eltern und bei der Mutter von Matthias. | |
| Es musste falsch gewesen sein, wenn es so leicht zu zerstören war, durch | |
| eine Unachtsamkeit, eine falsche Bewegung. Das Unglück hatte früher oder | |
| später kommen müssen, als plötzliches Ereignis oder als langsamer | |
| Verschleiß, aber es war unausweichlich.“ | |
| Der Schweizer Peter Stamm schreibt manchmal mit einer kühlen Grausamkeit | |
| über seine Figuren. Ob in Romanen wie „An einem Tag wie diesem“, „Sieben | |
| Jahre“, oder in seinen Erzählungen – wir haben es mit Personal zu tun, das | |
| mehr auf ein sonderbares Leben und eine sonderbare Art zu lieben schaut, | |
| als dass es aktiv daran teilnimmt. Es gibt immer eine Unvollständigkeit, | |
| mit der es umgehen muss. | |
| ## Lauter Imponiergehabe | |
| In „Nacht ist der Tag“ schneidet Stamm Rückblenden in Gillians | |
| Heilungsprozess: Während sie und Ehemann Matthias sich im Schaum des | |
| Medienvolks zu halten versuchten und so Anspruch und Intellekt | |
| allerlängstens verrieten, rieben sie ihre Ehe dünn vor lauter | |
| Imponiergehabe. | |
| Im zweiten Teil vergehen die nächsten Jahre aus Huberts Sicht, wir folgen | |
| einem Prozess der Verbürgerlichung. Während Gillian nie eine Alternative zu | |
| denken schien, kommt der anders gestartete Hubert bei einem ähnlichen | |
| Lebensstil an: „Früher hatte er sich immer lustig gemacht über die | |
| Künstler, die sich auf Professorenposten einnisteten, aber nach Lukas’ | |
| Geburt nahm er das Angebot der Hochschule an.“ | |
| Während Hubert seiner Produktionsblockade den gnädigen Schleier des | |
| akademischen Betriebes überwirft, schreitet seine Frau Astrid zur nächsten | |
| Etappe neuer Bürgerlichkeit: Sie wird Esoterikerin. Huberts Schwung | |
| zerbröselt zu Trägheit und Orientierungsschwäche. Und so macht auch er sich | |
| auf ins Engadin und trifft Jill, die als Oberanimateurin in einem Hotel | |
| wirkt. Der Leere, die beide jetzt umschließt wie das enge Tal, haben sich | |
| Hubert und Jill von entgegengesetzten Richtungen angenähert. | |
| ## Ein mühsames Strampeln | |
| Amüsant zu lesen ist der Spott über Fernsehen, Kunst und Literaturbetrieb. | |
| Stamms Sprache stellt nie etwas aus, bleibt karg und nah an der | |
| Beschreibung der Räume, durch die sich seine Protagonisten bewegen. Wie | |
| schon in den früheren Romanen gibt es keine größere Katharsis, sondern eher | |
| ein mühsames Strampeln: Den Figuren hängt der Mühlstein der Zeit und der | |
| eigenen Geschichte um den Hals, ihre Gedanken müssen wir selbst zu Ende | |
| denken. | |
| Diese Personen werden uns nah, gerade durch die Leere, die sie umgibt. Bis | |
| wir in ihnen auch Karikaturen zeitgenössischer Debatten finden und Stamm | |
| sie uns so wieder entreißt. | |
| Deshalb bleibt nach dem Lesen der Geschmack einer Kurzgeschichte übrig – | |
| was bei Peter Stamm alles andere als ein Vorwurf ist. Etwas bricht da ab | |
| und wirkt als Rätsel zurück auf die Erzählung. In diesem Fall ist es Jill. | |
| Wer allerdings nach Amália Rodrigues auf eine Goa-Party geht, dem kann wohl | |
| nicht mehr geholfen werden. | |
| 20 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Lennart Laberenz | |
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