| # taz.de -- Neues Sachbuch über Armut: Fressen statt geben | |
| > Der Sozialstaat ruft die Armut hervor, die er bekämpfen soll: Jürgen | |
| > Borchert analysiert in seinem Buch wachsende soziale Ungleichheit. | |
| Bild: Vom Sozialstaat gedisst? Besucher der Trierer Tafel. | |
| Deutschland sei der „Weltmeister der sozialen Ungerechtigkeit“. Mit dieser | |
| Ansage wirbt der Verlag für ein Buch von Jürgen Borchert, dem Vorsitzenden | |
| Richter am Hessischen Landessozialgericht. Es heißt | |
| „Sozialstaatsdämmerung“. | |
| Darin analysiert der parteiungebundene, einem aufgeklärten linken Spektrum | |
| zuzurechnende Jurist, wie Beschäftigte mit niedrigen und mittleren | |
| Einkommen sowie Familien mit Kindern durch die deutsche Finanzpolitik | |
| systematisch benachteiligt werden. In der Konsequenz bringe der Sozialstaat | |
| die Armut hervor, die er bekämpfen solle, argumentiert Borchert. | |
| Zur Buchvorstellung im Haus der Bundespressekonferenz saß neben taz-Autor | |
| Mathias Greffrath auf dem Podium Klaus Wiesehügel, der Chef der | |
| Baugewerkschaft und möglicher Arbeitsminister in einem von | |
| SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück geleiteten Kabinett. So war klar, dass | |
| Borchert seine Stimme im Wahlkampf erhebt – und gerade deshalb nötigt der | |
| Werbeslogan, das Thema zunächst aus gehöriger Distanz zu betrachten. | |
| Deutschland – Weltmeister der sozialen Ungerechtigkeit? | |
| Glücklicherweise existiert in diesem Falle ein eindeutiger Maßstab, um | |
| Ideologie von Realität zu scheiden. Der Gini-Koeffizient, zurückgehend auf | |
| den italienischen Mathematiker Corrado Gini, dient als international | |
| anerkannter Indikator für soziale Ungleichheit. Im Jahr 2012 stand | |
| Deutschland auf Platz 15 weltweit, unter 195 Staaten – also dem | |
| Weltmeistertitel für Gerechtigkeit wesentlich näher als dem für | |
| Ungerechtigkeit. Wobei einzuräumen ist: Die Spreizung zwischen Arm und | |
| Reich wird hierzulande größer. Wir rutschen langsam abwärts. | |
| Was meint der engagierte Richter konkret, wenn er seine zornigen | |
| Formulierungen niederschreibt? „1965 lebte nur jedes 75. Kind unter sieben | |
| Jahren zeitweise oder auf Dauer im Sozialhilfebezug, heute ist es jedes | |
| fünfte.“ Angesichts dieser Entwicklungen fordert Borchert: „Lassen Sie uns | |
| nicht über politische Bagatellen reden, sondern über die grundsätzlichen | |
| Fragen.“ Entgegen dem offiziellen Versprechen belaste der Sozialstaat viele | |
| Menschen mehr, als dass er sie fördere, sagt der kritische Richter. | |
| ## Zulasten der Bedürftigen | |
| Er rechnet vor, dass über die Hälfte der staatlichen Einnahmen aus | |
| Sozialbeiträgen und indirekten Steuern stamme, deren prozentuale Belastung | |
| für Arme und Reiche gleich sei – mithin die Wohlhabenden bevorzuge. So | |
| finanzierten die Bedürftigen das Sozialsystem vornehmlich selbst. Es | |
| verbessere ihre Lage nicht. | |
| Um diese Analyse zu untermauern, liefert Borchert einige übersichtliche | |
| Tabellen. Sie sollen zeigen, dass eine Familie mit 30.000 Euro | |
| Jahresbruttoeinkommen und zwei Kindern nach Abzug von Steuern und | |
| Sozialabgaben weniger Geld zur Verfügung hat, als das garantierte | |
| Existenzminimum eigentlich zusichert. Demgegenüber würde die Gruppe der | |
| materiell am besten gestellten zehn Prozent der Bevölkerung via Steuern nur | |
| rund 15 Prozent der Staatseinnahmen beitragen, so Borchert. | |
| Eine wesentliche Ursache besteht dem Autor zufolge in der Ausgestaltung der | |
| Beiträge zur Sozialversicherung. So seien Selbstständige und Beamte nicht | |
| verpflichtet, in die allgemeine Versicherung für Krankheit, Alter, | |
| Arbeitslosigkeit und Pflege einzuzahlen. Außerdem würden die Beiträge gut | |
| verdienender Personen für die Renten- und Arbeitslosenversicherung bei | |
| einem Jahresbruttoeinkommen von knapp 70.000 Euro gedeckelt, darüber seien | |
| keine Abgaben mehr zu leisten. Reiche könnten sich die Sozialversicherung | |
| also sparen. Zu allem Überfluss, argumentiert Borchert weiter, kenne die | |
| Sozialversicherung auch kein beitragsfreies Existenzminimum. Selbst wenn | |
| sie Kinder zu versorgen hätten, müssten Durchschnittsarbeitnehmer dieselben | |
| Sozialbeiträge leisten wie kinderlose Personen. | |
| ## Sinkende Tendenz Deutschlands | |
| An der Existenz dieser sozialen Unwucht gab es für Arbeitsminister in spe | |
| Klaus Wiesehügel nicht viel zu beschönigen. Dies zu tun, war auch nicht | |
| seine Absicht, vertritt er doch „ein linkes Programm“ – ein Grund für se… | |
| Berufung in Steinbrücks Schattenkabinett. Die Frage allerdings stellte | |
| sich: Würde die SPD den Sozialstaat sozialer machen, käme sie an die | |
| Regierung? | |
| Die Partei hat sich durchaus vom Hartz-IV-Programm ihres Exkanzlers Gerhard | |
| Schröder entfernt. Steuererhöhungen für Reiche und eine Bürgerversicherung | |
| gegen Krankheitsfälle, in die alle einzahlen müssten, stehen jetzt auf der | |
| Tagesordnung. Dass die SPD aber, sollte sie wirklich regieren, eine | |
| Bürgerversicherung ohne Beitragsbemessungsgrenzen für alle vier Zweige der | |
| Sozialversicherung einführte und dort auch das Existenzminimum freistellte, | |
| braucht niemand zu hoffen. | |
| So besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland auch mit den | |
| Sozialdemokraten als Kanzlerpartei auf der Gini-Liste der sozialen | |
| Ungleichheit weiter absinkt. | |
| 21 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Hannes Koch | |
| ## TAGS | |
| Arm | |
| Reiche | |
| Sozialstaat | |
| soziale Ungleichheit | |
| Sozialabgaben | |
| Kinderarmut | |
| Grundeinkommen | |
| Kinderfernsehen | |
| Netzneutralität | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wegen höherer Löhne: Sozialabgaben steigen 2014 | |
| Weil die Einkommen steigen, werden auch die Sozialabgaben höher ausfallen. | |
| Betroffen sind besonders Arbeitnehmer mit mehr als 4000 Euro Monatslohn. | |
| Kinderamut in Deutschland: Von Anfang an zum Amt | |
| Jedes siebte Kind in Deutschland ist auf Hartz IV angewiesen. Besonders | |
| betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden – es fehlt an | |
| Betreuungsplätzen. | |
| Chancen mit ausländischem Abschluss: Ein langer Weg zur Arbeit | |
| Hamburg war mit seinem Landesgesetz Vorreiter bei der Anerkennung | |
| ausländischer Abschlüsse. Doch Kritiker finden das Verfahren zu teuer und | |
| kompliziert. | |
| Bedingungsloses Grundeinkommen: 2.500 Schweizer Franken für jeden | |
| Bedingungsloses Grundeinkommen? Ausgerechnet die Schweiz wird wohl das | |
| erste Land sein, das über die Einführung abstimmt. | |
| Rollenbilder im Kinderfernsehen: Die rosa-blaue Weltverschwörung | |
| Das Kinderfernsehen prägen Figuren wie die zwanghafte Kümmerin Dora und der | |
| Abenteurer Diego. Vorbilder ohne Rollenklischees gibt es zu wenige. | |
| Ungleichheit der Daten: EU will Netzneutralität aufweichen | |
| Die EU will die Bevorzugung von Inhalten im Internet erlauben. Die | |
| herrschende Regelung würde der Netzneutralität widersprechen. |