# taz.de -- Die Wahrheit: Gurkenspiel ohne Zeitlupe | |
> Tagebuch einer Stadionbesucherin: Die laufende Saison beschert dem | |
> Hauptstadtklub eine neue Erfahrung und Hertha-Fans ein anhaltendes | |
> Delirium. | |
Das Sommerloch schrumpft. Die Schulkinder sind zurück, Anwohner kämpfen um | |
Parkplätze, aber das Wichtigste: Seit drei Spieltagen kann man sich endlich | |
wieder schmerzlich vermissten Samstagsritualen hingeben, nämlich Haushalt | |
und Wäsche machen, während aus flächendeckend in der Wohnung verteilten | |
Radios die Konferenzschaltung dröhnt, und später beim „Sportschau“-Gucken | |
gibt es „Bügeln mit der Bundesliga“. | |
Die laufende Saison beschert dem Hauptstadtklub eine neue Erfahrung und | |
Hertha-Fans ein anhaltendes Delirium. Siege in Serie! Sogar Tabellenführer! | |
Am dritten Spieltag treibt der Geruch des Erfolgs dann auch eine rheinische | |
Fußballopportunistin wie mich ins Oympiastadion. | |
Ich gebe zu, bislang fiel es mir schwer, einen Verein ins Herz zu | |
schließen, der erstens nicht in Nordrhein-Westfalen beheimatet ist und | |
zweitens einen Frauennamen oder den einer Wurstmarke trägt. Ich weiß, ich | |
weiß … die Wurst heißt „Herta“. Ohne h. Aber im Deutschen gibt’s nun … | |
kein Tie-äitsch wie im Englischen, weshalb sich im Sprachzentrum meines | |
Gehirns irgendwas kurzschließt und rauskommt „Hertha = Wurst“. Ich kann | |
nichts dafür, ich komme aus einer Metzgerfamilie. | |
Aber ich will nicht abschweifen, denn Fußball ist eine ebenso schöne wie | |
ernste Angelegenheit. Das lernte ich schon in früher Kindheit, als der 1. | |
FC Köln noch nicht in der 2. Liga dümpelte, sondern – jawohl! – Meister | |
wurde und ich samstags nicht „Daktari“, sondern „Sportschau“ oder gar n… | |
gucken durfte. Konsequenterweise wurden nicht irgendwelche Wildtierretter | |
meine Helden, dafür Overath (Köln), Libuda (Schalke) und später – hier | |
zeichnet sich bereits die Tendenz zum Verrat an der Kölner Heimat ab – Jupp | |
Heynckes und Borussia Mönchengladbach. Und Beckenbauer, Katsche | |
Schwarzenbeck sowie Lothar Emmerich. Inzwischen fehlt mir – frei von | |
Schuldbewusstsein! – jede Vereinsloyalität. | |
Nun aber Anpfiff. Hertha gegen den HSV, eine Paarung, die Erinnerungen an | |
den ehemaligen Wohnort Hamburg und einen dortigen Stadionbesuch wachruft, | |
in dessen Verlauf der damals sechsjährige Sohn nach einem Tor des HSV | |
entschieden einen „Nachlauf“ forderte. Er wollte Zeitlupe. Gab’s nicht. | |
Heute ist er Bayernfan. Auf dem Feld entwickelt sich schleppend ein | |
Gurkenspiel. Die HSV-Spieler stolpern über den Rasen, und Hertha bietet | |
auch nicht gerade Weltfußball. Hinter mir grölen drei Besoffene „Berlin, | |
Berlin, wir scheißen auf Berlin!“, während nach einem fiesen Foul die | |
Anzeigentafel „Schnelle Hilfe Berlin Apotheke“ empfiehlt. In der | |
Hertha-Kurve weht ein Banner „Alte Dame 1892“ und erinnert an ungeklärte | |
Fragen. | |
Als Ramos die Berliner endlich zum dritten Sieg schießt, google ich gerade | |
Herthas ominösen Namensgeber. Die Herthaner jubeln, die Gröler verstummen, | |
schön wäre jetzt ein Nachlauf, aber dafür bin ich in der Kategorie | |
„Gehortetes Faktenwissen“ um eine Information reicher: „Hertha“ war ein | |
Ausflugsdampfer! Und siegt heute mit eins zu null. Na dann, Wolfsburger, | |
ihr dürft euch nächsten Samstag warm anziehen! | |
28 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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