# taz.de -- NS-Stadtplanung und Holocaust: Vom Modehaus zum Mordlabor | |
> Die Ausstellung „Geraubte Mitte“ im Berliner Stadtmuseum zeigt, wie die | |
> NS-Stadtplanung in der Reichshauptstadt mit der Ermordung der Juden Hand | |
> in Hand ging. | |
Bild: Die Rückgabe der Grunstücke an die Erben steht noch aus, sagt Kurator G… | |
Joseph Goebbbels sprach von einer „außerordentlich humanen“ Anordnung, | |
„sozusagen einer hygienischen Vorschrift, die verhindern soll, dass der | |
Jude sich unerkannt in unsere Reihen einschleichen kann.“ So pries Hitlers | |
Propagandaminister die „Judensterne“, die sechseckigen, gelben Sterne, die | |
Mitte September 1941 an alle über sechs Jahre alten Juden in | |
Großdeutschland ausgereicht wurden. | |
Für 10 Pfennig pro Stück mussten sie die Sterne erwerben und auf der linken | |
Brustseite ihrer Kleidung aufnähen. Produziert hat die auf gelben Stoff | |
gedruckten Symbole rassistischer Diskriminierung die Firma Geitel & Co. in | |
der Wallstraße 16 in Berlin-Mitte. | |
Sie stellt heute, geführt vom Enkel des Firmengründers, unter anderem die | |
deutschen Nationalflaggen her, die auf dem Reichstag wehen. Für die | |
Produktion rund einer Million Judensterne kassierte Geitel & Co. 30.000 | |
Reichsmark. Der im Jahr 1908 errichtete Gewerbehof in der Wallstraße 16 – | |
heute „Wall City Showrooms“ – gehörte seit 1920 der aus Galizien | |
zugewanderten jüdischen Familie Intrator und wurde 1938 arisiert. | |
Solche Details aus der Geschichte der Ausraubung der deutschen Juden in | |
Nazideutschland lassen sich ab morgen im Ephraim-Palais in Berlin | |
nachvollziehen. Das Stadtmuseum zeigt dort die Ausstellung mit dem Titel | |
„Geraubte Mitte“. | |
## Arisierung des historischen Zentrums | |
Kurator der Schau ist der Berliner Historiker Benedikt Goebel. Als er vor | |
bald 20 Jahren über das Thema Arisierungen promovieren wollte, sagte ihm | |
seine Großmutter, das sei „aber kein schönes Thema“. Goebel fand heraus, | |
dass seine Oma auf einem Grundstück lebte, das ihr zweiter Mann in der | |
NS-Zeit von einem jüdischen Eigentümer übernommen hatte. Das motivierte den | |
jungen Historiker erst recht. | |
Goebel verfasste nicht nur eine Doktorarbeit über den „Umbau Alt-Berlins | |
zum modernen Stadtkern“, sondern wandte sich einem besonders brisanten | |
Aspekt der Besitzgeschichte des historischen Zentrums zu, der Arisierung. | |
Mit dem Ostberliner Architekten Lutz Mauersberger, der seit Jahrzehnten | |
Fotos aus Berlin-Mitte sammelt, untersuchte er die insgesamt 1.217 | |
Grundstücke, die in den 1920er Jahren im alten Stadtkern existierten. | |
Vor der Machtübernahme durch die Nazis waren von diesen Grundstücken 239 in | |
jüdischem Besitz. Im Stadtkern lagen die Wurzeln des jüdischen Lebens in | |
Berlin. Im 18. Jahrhundert erarbeiteten sich jüdische Münzpräger und | |
Kaufleute erhebliche Vermögen und erwarben Grundbesitz. | |
Als die Nationalsozialisten an die „Entjudung des Berliner Grundbesitzes“ | |
gingen und eine ganze Phalanx staatlicher Institutionen den legalistischen | |
Raub organisierte, lockte im Zentrum besonders reiche Beute. | |
## Enteignung, Stadtumbau und Holocaust | |
Am 30. Januar 1937 ernannte Adolf Hitler den Architekten Albert Speer zum | |
Generalbauinspektor Berlins. Im September des gleichen Jahres schlug Speer | |
vor, rund 50.000 Wohnungen, in denen Juden lebten, zu konfiszieren, | |
darunter 25.000 Großwohnungen. Zunächst wurden deren Bewohner in | |
„Judenhäusern“ konzentriert, später auch direkt aus ihren Wohnungen in die | |
Vernichtungslager deportiert. | |
In der Stadtmitte plante Speer eine Ostachse als Verlängerung der Straße | |
Unter den Linden. Wohnhäuser wurden verstaatlicht, die alte wurde Stadt | |
abgerissen. Oft wurden arische Volksgenossen aus Abrisshäusern in die | |
Wohnungen vertriebener Juden umgesetzt. | |
„Den Zusammenhang zwischen Stadtumbau und Holocaust“ will Kurator Benedikt | |
Goebel mit der Ausstellung aufzeigen. Diese beeindruckt visuell durch die | |
großen historischen Schwarzweißfotos, die über die meisten Wände gezogen | |
sind. | |
## Vom Modekaufhaus zum Reichskriminalamt | |
Auf einem Bild ist die prachtvolle Neo-Renaissance-Fassade des | |
Modekaufhauses Gerson am Werderschen Markt zu sehen, das Ende des 19. | |
Jahrhunderts von der Familie Freudenberg übernommen worden war. Nach der | |
Arisierung wurde das elegante Haus 1934 geschlossen, drei Jahre später | |
zwangsversteigert und anschließend zum Reichskriminalamt umgebaut. | |
Alsbald testeten im Hof Polizeitechniker Mordmethoden für die Euthanasie. | |
Abgase eines geschlossenen Lkws wurden in dessen Inneres geleitet, um | |
herauszufinden, ob sich so effektiv Menschen töten ließen. | |
Was die Arisierungen im Berliner Zentrum besonders kennzeichnete: Hier | |
bereicherten sich vorrangig staatliche Stellen an jüdischem Grundbesitz, | |
während in anderen Teilen Berlins mehr private Ariseure profitierten. Als | |
die „Entjudung“ des historischen Zentrums abgeschlossen war, lag es nach | |
beständigen Bombenangriffen der Amerikaner und Briten bald in Schutt und | |
Asche. | |
Bei der Auferstehung aus Ruinen nach dem Krieg modifizierten die | |
Ostberliner Planer den Stadtgrundriss und überbauten einen Teil der vom | |
Deutschen Reich geraubten Grundstücke mit massiven Wohnhäusern oder ließen | |
Parks schaffen wie das Marx-Engels-Forum. | |
## Nur wenige Grundstücke bisher zurückgegeben | |
Kurator Goebel erhofft sich von der Ausstellung neben historischer | |
Aufklärung auch einen aktuellen politischen Impuls. Er hält es für | |
moralisch geboten, noch einmal über die Rückgabe der einst arisierten | |
Grundstücke an die Erben der enteigneten Besitzer nachzudenken. Denn nach | |
der Wende wurden nur weniger als 2 Prozent der 224 unbebauten Grundstücke | |
in Form einer „Naturalrestitution“ an die Erben zurückgegeben. Für alle | |
anderen Grundstücke wurde eine Entschädigung bezahlt, die aber im Schnitt | |
nur bei 10 Prozent des Marktwerts lag. | |
Der im Restitutionsrecht erfahrene Berliner Anwalt Gunnar Schnabel hat nun | |
die Forderung juristisch untermauert, dass jene 98 Prozent der Grundstücke | |
den Erben zurückgegeben werden sollten. Zwar wurde für sie schon einmal | |
Entschädigung geleistet – die müsste eben zurückbezahlt werden. Es | |
erscheint allerdings eher unwahrscheinlich, dass sich einflussreiche | |
Politiker diese Anliegens annehmen. | |
Die Brisanz der Besitzgeschichte des Berliner Stadtkerns zeigt sich schon | |
am Ausstellungsort. Das Ephraim-Palais ließ der Bankier Friedrichs des | |
Großen ab 1762 bauen; abgerissen wurde es – inzwischen im Besitz der Stadt | |
– im Jahr 1935, um im Rahmen der NS-Stadtplanung Platz für den Bau einer | |
Brücke über die Spree zu schaffen. Die Fassade und wichtige Bauteile wurde | |
in Berlin-Wedding eingelagert und vom Westberliner Senat im Vorfeld der | |
Berliner 750-Jahr-Feier an die Kommunisten in Ostberlin übergeben, die das | |
Palais wiederaufbauten. | |
4 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Michael Sontheimer | |
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