# taz.de -- Eisfabrik Berlin: Letzte Nischen, heiß umkämpft | |
> Graffiti, Partymüll und fotografierwütige Touris: Für die einen ist die | |
> Eisfabrik-Ruine eine hippe Kulisse, für andere ein karges Zuhause auf | |
> Zeit. | |
Bild: Die in der Eisfabrik-Ruine lebenden Roma trocknen ihre Wäsche im Hof. | |
BERLIN taz | Letztes Abendlicht. Das Dach der Berliner Eisfabrik. Geräusch | |
einer Spraydose, dieses Zischen des Ventils, wenn man auf den Sprühkopf | |
drückt. Man kann den Fernsehturm sehen und die Dachpappe riechen. Für einen | |
Moment lang hat man das Gefühl, Berlin wäre noch so, wie es vor zehn Jahren | |
war, und alles sei gut. Ein Mädchen mit sehr langen Haaren lässt sich nah | |
der Dachkante fotografieren. „Geil“, sagt ein Junge. „Das is noch Berlin. | |
Das letzte Reservat.“ | |
Tatsächlich ist die verlassene Fabrik in der Köpenicker Straße eine der | |
letzten ihrer Art. Ein Ziegelgebäude mit einem imposanten Schornstein, in | |
dem hundert Jahre lang Eisstangen zur Kühlung von Lebensmitteln gefroren | |
wurden. Bis in den 90er Jahren der Betrieb aufhörte – wie in allen Fabriken | |
zwischen Fischerinsel und Oberbaumbrücke. | |
Den Spreestrand eroberten die Aussteiger, Streetartkünstler und Abenteurer, | |
was nicht weiter erwähnenswert wäre, denn die Strandbars und | |
Ruinenparadiese an diesem Ufer sind sattsam bekannt. Die Marke hippes | |
Berlin, Stadt der Freiräume, wurde vor allem hier geschaffen. Besonders ist | |
nur, dass Berlins Brachen inzwischen fast alle geräumt wurden – nur die | |
Eisfabrik ist noch übrig. | |
Weil zwei Eigentümer sich nicht einig werden, was mit dem Gelände passieren | |
soll, passiert nichts. Dass hier noch der Knöterich wächst, hat sich wie | |
ein Lauffeuer herumgesprochen. Wer Berlinruine will, kommt hierher. | |
## Dreckiger als in Neapel | |
Und schon deshalb ist nichts wie es war, und nichts ist gut. Denn wenn sich | |
alle, die eine Nische suchen, an ein und derselben Stelle versammeln, | |
klappt das nicht wirklich. Die Sprayer, die gerade den Schornstein neu | |
gestalten, müssen aufpassen, sich nicht gegenseitig vom Dach zu schubsen. | |
Einer mit Rastahaaren, der unentwegt etwas in eine uralte gelbe | |
Schreibmaschine tippt, hat seine Bastmatte an der alleräußersten Dachkante | |
ausgerollt und versucht, entrückt zu gucken. | |
Derweil entert eine Gruppe in Holzfällerhemden und Chucks das Dach. Sie | |
diskutieren lauthals und trollen sich gleich wieder. „Nicht cool, total | |
verdreckt“, erklärt einer von ihnen. Ein blasses Mädchen, das aus Neapel | |
kommt, sagt, noch nie in ihrem Leben hätte sie so viel Müll gesehen. | |
Tatsächlich liegen hier Sektflaschen, Weinflaschen und Pappen von | |
Sixpackträgern kniehoch. „Außerdem stinkt es“, sagt das Mädchen, das Hel… | |
heißt. Sie hat Recht. | |
Im Treppenschacht riecht es, als hätte eine ganze Loveparade einen Monat | |
lang in dieselbe Ecke gepisst. „Leiche“, sagt Helena. Aber „Bierblase“ | |
trifft es wohl besser. Es ist duster, überall liegen Scherben, eine Ratte | |
flüchtet. Das Treppenhaus führt auf einen Flur, der in einen Lichtschacht | |
blickt. Hinter Fenstern, die keine Scheiben mehr haben, kann man hier und | |
da Feuer brennen sehen. Helena meint, das seien die Feuer der Obdachlosen. | |
Die wären es auch, die ins Treppenhaus kackten, und von denen kämen der | |
ganze Müll und die Ratten. | |
Das Feuer brennt in einem kleinen Campinggrill, der in einer Halle steht, | |
die sich an den Flur anschließt. Drei Männer und eine Frau sitzen an einem | |
Klapptisch. Zwei stellen sich als Albert und Konstantin vor. Sie wohnen | |
hier, ja natürlich. Ob wir stören? Nein. Sie seien es schon gewohnt, Besuch | |
zu kriegen. Hier käme dauernd irgendwer vorbei. Sprayer, die fast täglich | |
neue Bilder sprühen. Die ganzen jungen Leute von überall her, die von allem | |
Fotos machen. Im Grunde störe das nicht. Nur in der Nacht sei es manchmal | |
laut. Sie wollen schlafen, die jungen Leute feiern. Und öfter mal pinkelten | |
welche von denen im Suff ins Treppenhaus statt das Klo zu benutzen, das | |
Konstantin im Hof gebaut hat. Aber schlimmer wären die Ratten und der Müll. | |
## In Dobritsch haben sie "gar nichts" | |
Albert und Konstantin kommen aus Dobritsch, einer Stadt in Bulgarien. Sie | |
sind Roma mit türkischen Wurzeln – eine ganze Gruppe, die seit etwa zwei | |
Jahren in Berlin lebt. Noch im letzten Sommer hätten sie in verschiedenen | |
Gebäuden rund um den Ostbahnhof gewohnt. Bis eins saniert und ein anderes | |
abgerissen wurde. Deshalb seien die ersten von ihnen in die Eisfabrik | |
gekommen, hätten eine Hütte in eine der Hallen gebaut, einen Allesbrenner | |
reingestellt und hätten hier überwintert. | |
Zur ersten Hütte sind weitere gekommen. Die meisten von ihnen sind so groß, | |
dass ein Bett und die persönliche Habe eines Bewohners hinein passen. Der | |
eigentliche Wohnbereich liegt vor den Verschlägen: so wie diese Essgruppe | |
hier. In der Grillschale lecken die Flammen, Albert schürt, draußen dämmert | |
es. Die Atmosphäre könnte fast privat sein, würden nicht dauernd Grüppchen | |
von Zwanzigjährigen durchs Esszimmer gehen. | |
Albert beachtet sie nicht. Die Roma haben andere Sorgen. Ihre Hauptsorge | |
ist, dass sich auch diese Nische wieder schließt, dass die Fabrik noch vor | |
dem Winter geräumt werden könnte und sie weiter ziehen müssen. Nicht, dass | |
sie die Fabrik lieben würden. Im Gegenteil. Aber so wie die Sprayer, | |
Touristen und Romantiker brauchen sie die letzte Ruine an der Spree. | |
An Albert fällt auf, dass sein Äußeres in starkem Gegensatz zum | |
Ruinenschmuddel und Feuerruß steht. Er trägt ein T-Shirt, das tatsächlich | |
weiß ist, dazu Turnhosen und eine Lederjacke in Beige. Er ist ein kräftiger | |
Mann, der auch im Sitzen so wirkt, als wollte er gleich aufspringen und | |
irgendwas packen – ein Rugbyei zum Beispiel. | |
Dabei erzählt er, wie er zurande kommt. Vom Kupfersammeln, das pro Kilo | |
drei Euro einbringt. Von Jobs auf dem Bau und von den Schwierigkeiten, ohne | |
Meldeadresse feste Arbeit zu kriegen. Von seiner Siedlung in Dobritsch, wo | |
sie gar nichts haben – und von Deutschland, wo sie versuchen, mit | |
Schrottsammeln und Gelegenheitsjobs etwas Geld anzusparen. Damit würden sie | |
irgendwann eine richtige Wohnung mieten können, mit der Adresse wiederum | |
können sie ein Gewerbe anmelden, und als Selbständige dürfen Bulgaren in | |
Deutschland legal arbeiten. | |
Jemand legt Feuerholz nach. Albert redet weiter. Er mag Worte wie „legal“, | |
„Gewerbeschein“ und „EU-Bürgerschaft“. Dass die Bulgaren auch wie EU-B… | |
behandelt werden, ist für ihn nur eine Frage der Zeit. Bis dahin muss man | |
durchhalten. Er klingt wie aus der Generation unserer Großväter, die von | |
der harten Nachkriegszeit erzählen. Nur, dass die vermutlich ihr Abendessen | |
nicht in Ruinen am offenen Feuer zubereitet haben. Und falls doch, wäre | |
keine Japanerin vorbeigekommen, die von ihnen und ihrem Grillfeuer ein Foto | |
macht. Im Hintergrund ein Graffiti mit den Buchstaben „Freaks“. | |
## Vierzehn Eimer Wasser | |
„Ich zeig euch was“, sagt Albert. Es geht wieder zurück durch den Flur, wo | |
zwei Basecapträger gerade eine Wand für ein neues Bild grundieren. Eine | |
weitere Halle schließt sich an, groß wie ein Museumssaal. Der Boden ist | |
blank, wie gefegt. „Das hab ich gemacht“, erklärt Albert. „Bevor ich mei… | |
Hütte gebaut habe, hab ich sauber gemacht.“ Denn als er hier ankam, türmten | |
sich in Brusthöhe Flaschen, Getränkekisten, modernde Sofas und Matratzen. | |
Er hat keine Ahnung, wo das Zeug herkam. Viel wichtiger war ihm, es | |
rauszuschaffen. Er hat einen alten Couchtisch aus dem Müll gezogen und ihn | |
wie einen Schneeschieber benutzt. Einfach alles nach draußen geschoben. Und | |
dann mit Wasser hinterher. 14 Eimer. | |
Erst dann hat er hier aus Sperrholz sein Haus errichtet. Er kramt einen | |
Schlüssel hervor und schließt auf: Drinnen stehen Schuhe sauber aufgereiht. | |
Alberts Turnschuhe, seine Puschen und ein paar Damenschläppchen. Seine Frau | |
aus Bulgarien ist gekommen, erzählt er. Stolz. Er hat Laminat verlegt und | |
ein weißes Ehebett aufgetrieben, eine rosa Decke darauf ausgebreitet und | |
einen Blumenschmuck angebracht. In einer Ecke gibt es eine Vitrine mit | |
Nippes. | |
Weil es langsam spät wird, bringt Albert seine Gäste nach draußen. „Zur | |
Tür“ kann man schlecht sagen, weil es keine Tür mehr gibt. „Passt auf euch | |
auf“, sagt er. „Lasst euch nicht von den Ratten fressen.“ Denn der Keller | |
und das Ufer gehören den Ratten. In der Dämmerung, wenn sich die Müllhaufen | |
vor der Tür vor lauter Ratten heben und senken, wirft er gern mit Steinen | |
nach ihnen. Wenn es nach Albert ginge, könnte die ganze Fabrik gerne | |
abgerissen werden. Oder gesprengt werden. Er stellt sich vor, wie die | |
Ratten explodieren. | |
Am besten fände er, wenn der Berliner Senat ihnen ein Ersatzhaus geben | |
würde, damit sie als EU-Bürger einen Platz zum Wohnen hätten. Aber ein | |
sauberes, schönes Haus, mit Laminat. | |
29 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Tina Veihelmann | |
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