# taz.de -- Rückkehr: Wer hat Angst vor dem Wolf? | |
> Die Wölfe dringen allmählich aus dem Osten nach Norddeutschland vor. Ein | |
> Besuch im niedersächsischen Borchel, wo viel über den Wolf geredet wird, | |
> seit er dort Schafe riss. | |
Bild: Wie Wölfe Schafe fressen | |
BORCHEL taz | Der Ortsvorsteher von Borchel zieht die Sense durchs saftige | |
Gras. Das Gerät ist noch vom Großvater, die Klinge scharf geschliffen. | |
„Gesche, Susi, Puschel, Anna!“, ruft er. Er kennt die Namen aller seiner 16 | |
Schafe. Gerade hat er den Elektrozaun um ein paar Zentimeter versetzt. | |
Sofort strecken sie ihre Mäuler nach dem frischen Grün, wuseln wie kleine | |
bewegliche Wollhügel umher. | |
„In Jeersdorf kenne ich noch den Ort einer alten Wolfskuhle“, sagt Hans | |
Worthmann. Vom Dörfchen Borchel ist das eine Stunde Fußmarsch entfernt. In | |
Borchel beim niedersächsischen Rotenburg redet man derzeit viel über den | |
Wolf: Wie man die Schafe schützen kann. Wie man den Räuber los wird. Die | |
Jagd nach dem Tier ist in Deutschland zwar längst vorbei, offiziell galt er | |
über 100 Jahre als ausgerottet, doch in Borchel ist der Wolf nie ganz | |
verschwunden. Und sein letztes Auftauchen liegt nur wenige Wochen zurück. | |
Hans Worthmann erinnert sich an das, was sein Vater und sein Großvater ihm | |
weitergegeben haben: Wie die Tiere in der Gegend für Unheil sorgten, wie | |
ihnen beizukommen war, mit Fallen und alter Jagdtechnik. Etwa die | |
Jeersdorfer Wolfskuhle, ein Loch mit Holzlanzen gespickt. Fiel der Wolf | |
hinein, wurde er aufgespießt. Es gab auch tiefere Gruben ohne Spieße oder | |
gemauerte Schächte mit glatten Wänden. Die Bauern wussten sich zu wehren. | |
„Die Schafe geben mir Ruhe“, sagt Worthmann. Er steht mitten auf der Weide. | |
Seine Wangen zeigen die Röte von jemandem, der viel frische Luft bekommt. | |
Er ist ein frommer Mann, bis zu seiner Pensionierung war er Pfarrhelfer der | |
Militärseelsorge in der nahen Kaserne – lutherisch, wie die ganze Gegend. | |
Jetzt ist er 74. | |
Er nimmt einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und blickt herüber zum nahen | |
Waldrand. Mit Schnurrbart, grauem Flies und Goldrand-Brille steht er da. | |
Der gute Hirte, der dem Bösen trotzt. Denn seit ein paar Monaten ist es | |
vorbei mit der Idylle: Auf dem Nachbarhof, bei den Grönings, hat ein Wolf | |
im März drei Schafe gerissen. | |
In Niedersachsen leben seit ein paar Jahren wieder Wölfe, 2006 wurde der | |
erste entdeckt, mittlerweile sollen es 13 Tiere sein. Mit der Wende | |
wanderten Wölfe aus Polen nach Deutschland ein. Dass sich die Population | |
von Osten nach Westen hin ausbreitet, liegt daran, dass es Richtung Süden | |
mehr Barrieren gibt, Autobahnen, Zugstrecken. | |
Doch ist es nur ein Frage der Zeit, bis Wölfe auch in Süddeutschland | |
ankommen. Junge Wölfe gehen mit der Geschlechtsreife auf Wanderschaft, | |
teils über Hunderte Kilometer. Sie suchen sich ihr eigenes Revier. Einer | |
von ihnen war in Borchel – und könnte noch immer da sein, so fürchten die | |
Leute. | |
Schon früher kam es vor, dass Schafe tot auf der Weide lagen, aber an einen | |
Wolf hatte niemand gedacht. Doch als die Grönings im März die drei Tiere | |
fanden, in ihrem Blut, von den Kehlen her aufgerissen, da ließen sie einen | |
Jäger kommen, und der wusste es gleich. Rotenburgs ehrenamtlicher | |
Wolfsberater, Forstoberrat Jürgen Cassier, war erst skeptisch, wiegelte ab. | |
Zu oft ist es doch ein Hund gewesen, zu oft bekommt der Wolf einfach die | |
Schuld. Doch dann kam der DNA-Test und niemand sollte den Borchelern mehr | |
sagen, sie seien voreilig. | |
Worthmanns Weide grenzt direkt an seine Hofstelle. 1899 hat der Großvater | |
hier den ersten Baum gepflanzt. Heute zieren Apfelbäume, Eschen, Blutbuchen | |
und Eiben das Gelände. Vor dem alten Bauernhaus steht ein Bienenschauer, | |
hinter dem Hof ist die Holzscheune schon so weit abgesackt, dass die | |
Fenster Trapeze formen. Fast einen halben Meter forderte der Torfboden | |
bereits Tribut. So ist das im Borchelsmoor. | |
Worthmann bückt sich herunter zu Gesche und krault ihr Fell. Puschel trabt | |
an, stupst ihn fast um. Worthmann schimpft ganz liebevoll. In diesem | |
Gelände Kühe zu halten – manche versuchen es. Meist ist nach ein paar Tagen | |
der Moorboden von deren Klauen zerpflügt. Heute betreiben nur noch vier der | |
40 Hofstellen die Landwirtschaft als Haupterwerb. Doch die Schafe blieben | |
den meisten eine Leidenschaft – und der Wolf ihnen unheimlich. | |
Vor kurzem lag ein Kalb nach der Geburt tot im Gras – mit Bisswunden und | |
ohne Eingeweide. So erzählt es Wortmann. Und, dass der Tierarzt nicht mehr | |
feststellen konnte, ob das Kalb schon tot zur Welt kam. Denn dazu müsse ein | |
Stück Lunge herausgeschnitten und in einem Wassereimer geprüft werden, ob | |
es schwimmt, ob also das Kalb schon Luft geatmet hat. | |
Doch die Lunge war komplett aufgefressen, hat Worthmann gehört. Stimmt | |
nicht, sagt der Wolfsberater Cassier, das Kalb war schon tot und die Lunge | |
noch da. Noch sei völlig unklar, was passiert sei. Cassier ist das Gerede | |
überhaupt nicht recht. Es herrschen zu viele Vorurteile und zu viel Angst. | |
Deshalb hält er viele Vorträge, um über den Wolf zu informieren und um für | |
Akzeptanz zu werben. | |
Worthmann kennt diese Reden, von den Politikern und den Tierschützern. | |
„Wenn der Wolf in der Stadt durch die Straßen ziehen würde, dann sähe das | |
anders aus“, sagt er. Klugschnacker aus der Stadt hätten wenig Ahnung vom | |
Leben im Moor. Der Wald von Borchel ist nicht nur eine physische Barriere | |
zur Stadt. | |
29 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
## TAGS | |
Wölfe | |
Niedersachsen | |
Film | |
Sachsen | |
Artensterben | |
Jagdgesetz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Britta Habbe über die Rückkehr des Wolfs: „Zecken verursachen mehr Todesfä… | |
Niedersachsens Wolfsbeauftragte über verzerrte Vorstellungen, den Schutz | |
von Deichschafen – und warum es ihr nicht schadet, auch Jägerin zu sein. | |
Regisseur Sebastian Körner über Wölfe: „Angst habe ich absolut nicht“ | |
Der Biologe und Naturfilmer Sebastian Koerner hat Wölfe schon aus wenigen | |
Metern Entfernung gefilmt. Hobbyfotografen rät er dennoch davon ab. | |
Sächsischer Umweltminister zu Wölfen: Strenger Schutz noch Jahre nötig | |
Der Wolf muss noch lange unter strengem Schutz stehen, sagt Sachsens | |
Umweltminister Frank Kupfer. Noch seien die Populationen zu klein, um | |
bejagt zu werden. | |
Natur ohne Mensch: Die Welt soll wilder werden | |
Tiere und Pflanzen machen, was sie wollen – wenn der Mensch sie lässt. | |
Forscher arbeiten daran, dass die Wildnis nach Europa zurückkehrt. | |
Artenschutz-Experte über den Wolf: „Man muss lernen, mit ihm zu leben“ | |
Der Wolf, eine Gefahr für Haus- und Nutzvieh? Übertrieben findet Sachsens | |
Artenschutz-Referent Bernd Dankert die Ängste von Tierhaltern. Der Staat | |
fördert den Zaunbau. | |
Guter böser Wolf: „Es ist eine stinknormale Wildtierart“ | |
Frank Faß versteht sich als Aufklärer: Wie man mit dem Konfliktpotenzial | |
zwischen Wolf und Mensch umgehen kann, zeigt er seit drei Jahren im | |
Wolfcenter im niedersächsischen Dörverden. |