# taz.de -- Kampfsport in Berlin: K. o. nach sieben Sekunden | |
> Der Auftakt einer neuen Reihe im Mixed Martial Arts bot spannende Kämpfe | |
> in fairer Atmosphäre. Dennoch hat es die Disziplin noch schwer, gegen | |
> Vorurteile anzukommen. | |
Bild: Ganz schön blutig: Mixed Martial Arts-Kämpfer nach dem Einsatz. | |
Fast eine Minute braucht Charles Andrade, um sein kleines Goldkettchen mit | |
dem Kreuz aufzufummeln und abzulegen, bevor er in den Ring steigt. Es ist | |
der letzte Kampf des Abends, der Hauptkampf. Dem Brasilianer Andrade, mit | |
bereits 38 Kämpfen der Mann mit der meisten Erfahrung an diesem Sonntag im | |
Rittersaal des Clubs Adagio am Potsdamer Platz, steht ein junger Mann aus | |
Nürnberg gegenüber. Wesley Howard, im Hauptberuf Schulcoach an einer | |
Nürnberger Hauptschule, ist mit seiner Familie angereist. Gerade erst vor | |
einer Woche hat Howard bei Respect FC, der größten deutschen | |
Mixed-Martial-Arts-Veranstaltung (MMA), bei seinem dritten Kampf seine | |
erste Niederlage kassiert – heute will er weiter Erfahrung sammeln, sich | |
gegen einen routinierten Kämpfer wie Andrade beweisen. | |
Die Erfahrung wird sehr kurz. Howard eröffnet den Kampf mit einem Tritt an | |
Andrades Oberschenkel. Mit der linken Hand fängt der Brasilianer Howards | |
Bein, kontert mit einem mächtigen rechten Haken direkt zum Kinn. Krachend | |
fällt Howard zu Boden, kassiert dort noch einen weiteren Schlag, schon | |
springt Ringrichter Wolf Menninger dazwischen. K. o. nach sieben Sekunden – | |
es ist der rekordverdächtige spektakuläre Abschluss des Debütabends von | |
Roundhouse, einer neuen Kampfsportreihe in Berlin. | |
Fünf Stunden zuvor. Noch ist das Adagio leer, nur Kämpfer und Trainer | |
laufen im Rittersaal umher, versuchen, die Nervosität in den Griff zu | |
bekommen, gehen noch einmal spazieren am Potsdamer Platz, vorbei am | |
Werbestand der Scientology, der wie immer auf der Suche nach neuen Opfern | |
zum kostenlosen Stresstest lädt. | |
Wer Raphael Vogt finden will, stellt sich am besten irgendwo hin und | |
wartet, bis er vorbeisaust. Eben sieht man den ehemaligen Serienstar aus | |
„Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ noch am Einlass, wo er Anweisungen an die | |
Kartenkontrolleure gibt, schon ist er die lange Treppe wieder | |
hinuntergelaufen, die hinabführt zum Rittersaal, begrüßt hier Freunde, löst | |
Probleme dort. Zusammen mit Wolf Menninger, dem Cheftrainer des | |
Kampfsportstudios MMA-Berlin, ist Vogt das organisatorische Herz von | |
Roundhouse, die an diesem Sonntag ihr Debüt gibt. Auf dem Programm: acht | |
Kämpfe. Die Disziplin: Mixed Martial Arts, zu Deutsch: gemischte | |
Kampfkünste, kurz MMA. | |
Es soll ein Event für die ganze Familie sein, hatte Vogt vorab gesagt. | |
Roundhouse will MMA-Sport der Spitzenklasse präsentieren und dabei ohne all | |
den Hype von der „härtesten Kampfsportart der Welt“ auskommen, mit der sich | |
MMA, in Deutschland immer noch bekannt als Free Fight und oft genug falsch | |
als „Kampf ohne Regeln“ bezeichnet, gern umgibt. | |
Gekämpft wird am Sonntag nicht im Käfig (Cage), sondern im Ring. „Für einen | |
Cage reicht der Platz nicht“, sagt Vogt. Dabei bietet bei dieser Sportart, | |
die neben Schlägen und Tritten auch Wurftechniken aus dem Ringen und Judo | |
und den vom Brasilianischen Jiu-Jitsu bestimmten Bodenkampf umfasst, ein | |
Käfig mehr Sicherheit für die Kämpfer – sie können nicht rausfallen. Hier | |
muss das der Ring leisten, fünf mal fünf Meter, mit sechs Seilen. | |
Kritisch überprüfen Kämpfer und Trainer die Spannung der Seile. „Für ein | |
Schwergewicht ganz schön locker“, sagt ein französischer Trainer, der mit | |
drei Kämpfern aus Avignon gekommen ist. Sein Schützling Cyril Asken wird | |
später in nur 54 Sekunden den aus Bremerhaven angereisten Eugen Buchmüller | |
in einen Rear Naked Choke zwingen, einen Würgegriff, aus dem sich der | |
deutsche Kickboxer, der an diesem Abend seinen ersten MMA-Kampf bestreitet, | |
nicht befreien kann. | |
Vogt und Menninger haben in der Vorbereitung alles erlebt, was | |
MMA-Veranstaltungen in Deutschland ausmacht. Absagen zum Beispiel, auch | |
sehr kurzfristige, gerade von deutschen Kämpfern, deren Namen fachkundiges | |
Publikum hätten anziehen können. Andreas Kraniotakes etwa, die deutsche | |
Nummer 1 im Schwergewicht, sollte gegen den Berliner Peter Tornow antreten. | |
Die Absage kam drei Tage vor dem Kampf, ein neuer Gegner für Tornow konnte | |
nicht mehr gefunden werden. Desinteresse von den Medien – lediglich der | |
Berliner Kurier brachte eine Seite über Raphael Vogt und dessen | |
Begeisterung für den MMA-Sport. Ein Senat, der die vorsichtige Anfrage nach | |
Unterstützung mit einem Brief beantwortete, man habe sich auf YouTube ein | |
paar MMA-Videos angesehen und halte den Sport „für nicht förderungswürdig�… | |
MMA hat es schwer in Deutschland. | |
Aber Vogt und Menninger wollen sich nicht frustrieren lassen, auch wenn sie | |
an diesem Abend tüchtig draufgezahlt haben. „Sehr professionelle | |
Organisation, tolle Location, aber ein bisschen zu wenige Besucher“, | |
attestiert ihnen Guido Wedekind, Cheftrainer der Fight Holics aus | |
Wolfsburg, der mit ein paar Kämpfern gekommen ist. | |
Das Publikum – rund 300 Menschen waren gekommen, 550 hätten Platz gefunden | |
– fühlte sich wohl in diesem für Kampfsport ungewohnten Ambiente, auch die, | |
die noch nie einen MMA-Kampf gesehen hatten. Vogts gute Freundin Yvonne | |
Catterfeld etwa fand die Kämpfe sehr aufregend. Im nächsten Jahr soll es | |
weitergehen, Vogt überlegt einen deutsch-französischen Ländervergleich. | |
Die Veranstaltung ist vorbei. Von acht Kämpfen ging nur einer über die | |
volle Zeit, sieben endeten vorzeitig, darunter auch der einzige | |
Frauenkampf, bei dem die Deutsche Tanja Hoffmann ihre französische Gegnerin | |
in unter einer Minute besiegen konnte. Zwei Platzwunden nähte der Ringarzt | |
gleich an Ort und Stelle, ein Kämpfer musste mit Verdacht auf | |
Gehirnerschütterung ins Krankenhaus, mehrere Kämpfer halten Eisbeutel auf | |
die geschwollenen Gesichter. | |
Im Backstage-Bereich läuft Wesley Howard auf und ab, noch in Kampfkleidung. | |
Er hat sich erzählen lassen, wie er k. o. gegangen ist und ärgert sich. | |
Schon vor einer Woche hatte er den Kampf verloren, weil ein Kick von ihm | |
abgefangen wurde. Als er auf Charles Andrade trifft, den Brasilianer, der | |
ihn gerade so spektakulär zu Boden geschickt hat, läuft er auf ihn zu und | |
entschuldigt sich dafür, dass er sich so dumm angestellt hat – er hätte | |
seinem Gegner gern einen besseren Kampf geliefert. Die beiden tauschen | |
E-Mail-Adressen aus, verabreden, eventuell künftig mal zusammen zu | |
trainieren. Howards Frau und sein Sohn stehen dabei, trösten. „Jetzt weiß | |
ich, wie sich ein K. o. anfühlt“, sagt Howard, „auch ganz gut, das mal | |
kennenzulernen.“ Und dann geht er hinüber zum Büro, in die Schlange der | |
anderen Kämpfer, um seine Gage abzuholen. | |
7 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Bernd Pickert | |
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Nun: weil er es mag. |