# taz.de -- Die Wahrheit: Der Kassencoach | |
> Supermarkttherapeut Frieder Herold sorgt für Gelassenheit und klare | |
> Grenzen am Kassenband – mit riesigem Erfolg. | |
Bild: Manche geben im Supermarkt richtig Gas, andere geraten spätestens am Kas… | |
„Zeigen Sie, was Sie gelernt haben!“ Aufmunternd nickt Frieder Herold der | |
älteren Frau zu, die am Kassenband des Supermarkts steht und sich unsicher | |
umschaut. Hinter ihr hat sich mittlerweile eine stattliche Schlange | |
gebildet. Die Unmutsbekundungen der wartenden Kunden werden lauter. | |
„Ziehen Sie Ihre Grenze!“, ruft Coach Herold nachdrücklich und versucht | |
vergeblich die anderen Kunden zum rhythmischen Klatschen zu animieren. | |
Langsam hebt Hertha Koch ihren rechten Arm. In der Hand hält sie einen | |
Warentrenner. Doch sie hält sie in der Bewegung inne. „Ich kann das nicht! | |
Ich weiß doch gar nicht genau, ob das da jetzt meine Äpfel waren oder | |
nicht!“ | |
Dem fülligen Mann hinter Frau Koch entfährt ein lauter Grunzlaut. | |
„Natürlich sind das meine Äpfel! Ich habe sie schließlich auf das Band | |
gelegt!“ Misstrauisch starrt Frau Koch auf die Sechserpackung Äpfel. | |
Endlich legt sie vorsichtig – als wäre es ein rohes Ei – den Warentrenner | |
hinter ihrer Ware auf das Band. Herold ist begeistert. „Gratulation! Der | |
erste Schritt in ein selbstbestimmtes Leben!“ Die Kassiererin verliert die | |
Geduld. „Kann ich jetzt endlich abkassieren?“, zischt sie genervt. Herold | |
wirft ihr einen mahnenden Blick zu. Solches Unverständnis begegnet ihm in | |
seinem Beruf oft. Dabei leistet er im Supermarkt unersetzliche pädagogische | |
Arbeit. | |
Herold ist gelernter Fassadenkletterer. Doch nach über zwanzig Berufsjahren | |
kam die schreckliche Diagnose: Höhenangst. Ein sofortiger Jobwechsel war | |
unvermeidbar. Seit knapp zwei Monaten ist der 56-Jährige nun als Coach in | |
verschiedenen Supermärkten tätig. Seine Mission: Er nimmt Kunden die Angst | |
vor dem Warentrenner. „Da ist natürlich viel Unsicherheit im Spiel. Wann | |
lege ich den Trenner? Wann ist die Person vor oder nach mir verantwortlich? | |
Reicht nicht auch genügend Abstand aus?“, bringt Herold die Fragen auf den | |
Punkt, die viele Kunden umtreiben. | |
Doch das Thema sei in Deutschland tabuisiert und der Aufklärungsbedarf | |
enorm hoch. Diese Unsicherheit kann bis zur sozialen Desintegration führen. | |
Bevor sie bei Coach Herold in Therapie ging, hatte Hertha Koch ihr Haus | |
seit zehn Jahren nicht mehr verlassen – schlicht aus Angst, etwas falsch zu | |
machen. Ein Einkauf hatte sie schwer traumatisiert. | |
„Ich hatte – wie so oft – keinen Trenner gelegt. Dann lief das Kassenband | |
ruckartig an“, erinnert sich Frau Koch. Die Orange eines anderen Kunden | |
rollte herüber zu ihren Einkäufen. Die Folge: Storno und ein bitterböser | |
Blick des Kassierers. „Sogar der Marktleiter musste kommen, weil der als | |
Einziger den Stornoschlüssel hatte.“ Frau Koch beginnt zu weinen. Coach | |
Herold nimmt sie väterlich in den Arm. „Das ist jetzt alles Vergangenheit! | |
Heute sind Sie stärker!“ Frau Koch macht in der Therapie große | |
Fortschritte. | |
Doch Herold arbeitet auch mit so genannten Problem-Kunden wie Rolf Geyer. | |
„Ich kämpfe gegen die schleichende Entgrenzung unserer Gesellschaft!“, sagt | |
der pensionierte Mathelehrer über sich selbst. Er ist Herolds schwerster | |
Fall. An Kasse 1 beginnt Herr Geyer seine Einkäufe auf das Band zu legen: | |
Die Bananen – Trenner. Die eingeschweißte Hühnerbrust – Trenner. Ein | |
Flachmann Korn – Trenner. | |
„Die Warentrenner sind alle! Saftladen! Ich brauche mehr!“, herrscht Geyer | |
die junge Kassiererin an. Die zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Vor | |
und nach Ihrer Ware reicht ein Trenner völlig aus!“, erklärt Herold mit | |
beruhigender Stimme. Das Gesicht von Rolf Geyer verfärbt sich rot. „Ich bin | |
doch kein Anfänger! Ihr Arschgeigen! Ich habe in meinem Leben alles | |
getrennt! Arbeit von Freizeit, Rest- von Verpackungsmüll, mich von meiner | |
Frau!“ | |
An Kasse 2 übt Frau Koch währenddessen das unbegleitete Shopping. Doch bei | |
ihrem Wochenendeinkauf hat sie völlig den Überblick verloren. „Das ist | |
niemals mein Toilettenpapier! Oder doch? Nein, nein!“, murmelt sie leise | |
vor sich hin – den Warentrenner fest in der rechten Hand. „Ich rufe jetzt | |
den Marktleiter!“, kündigt die Kassiererin an und greift zum Telefon. | |
In diesem Moment hechtet Rolf Geyer mit einem Sprung über das Warenband von | |
Kasse 1. „Da ist ja noch ein gottverdammter Trenner!“, brüllt Geyer und | |
versucht ihn Frau Kochs eisernem Griff zu entreißen. Die beiden stürzen in | |
verrenkter Umarmung in das Süßigkeitenregal, das scheppernd zusammenbricht. | |
Coach Herold beobachtet seine beiden Patienten erstaunlich gelassen. „Die | |
machen große Fortschritte! Vor zwei Wochen hätten Sie die gar nicht mit in | |
die Öffentlichkeit nehmen können!“ | |
14 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Nico Rau | |
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