| # taz.de -- Offene und geschlossene Jugendheime: Das andere Zuhause | |
| > Sind für manche Kinder und Jugendliche geschlossene Heime tatsächlich der | |
| > einzige Ausweg? Es gibt Alternativen dazu – ein Besuch in zwei Projekten. | |
| Bild: Das Wohnhaus des Don-Bosco-Hofes in Westfalen, wo derzeit acht Jugendlich… | |
| NRW/BRANDENBURG taz | „Hast du dich schon entschieden, David*, ob du | |
| bleiben möchtest?“, fragt Ulrich Schlüter, 56 Jahre alt, Heimleiter und | |
| Anlehnfigur. Er lebt mit acht sogenannten schwer erziehbaren Jugendlichen | |
| zusammen, Tag und Nacht. Sein Zuhause ist ihr Zuhause. Schlüter nennt sich | |
| selbst einen „Vollblutpädagogen“. Der Don Bosco Hof in Westfalen ist eines | |
| von 66 Standortprojekten der Outlaw gGmbH, die den Jugendämtern offene, | |
| stationäre Heimerziehungsplätze anbieten. | |
| David zuckt auf Schlüters Frage zusammen, schüttelt den Kopf und starrt auf | |
| seinen Suppenteller. | |
| „Einige von den Jungs hätten auch in den geschlossenen Einrichtungen der | |
| Haasenburg landen können“, sagt Marco Matthes, Referent für Grundsatzfragen | |
| der Outlaw gGMBH. Gegen die Haasenburg GmbH ermittelt seit Monaten die | |
| Staatsanwaltschaft Cottbus (siehe taz von 15. 10. 2013). Ein Jugendlicher | |
| mit dem gleichen biografischen Hintergrund kann je nach Jugendamt und | |
| Familiengericht in eine offene Einrichtung oder in eine geschlossene | |
| Unterbringung (GU) wie zum Beispiel die der Haasenburg GmbH geschickt | |
| werden. Wer wohin kommt, wird nach Paragraf 36 SGB VIII beschlossen. | |
| Objektive Kriterien gibt es nicht. | |
| „Voll cool“ findet David, 15 Jahre alt, den Bosco Hof: Pferde, Schweine, | |
| Hunde, die Kutsche, die anderen Jungs, sein Zimmer unterm Dach. Trotzdem | |
| möchte er nicht bleiben. | |
| ## Kein Familienersatz | |
| David ist erst seit einer Woche hier. Er hat vergessen, dass Ulrich, den | |
| alle Ulli nennen, am Abend vorher mit ihm darüber gesprochen hat, dass | |
| seine Mutter ihn nicht nach Hause zurückholen wird. „Morgen ist dein erster | |
| Schultag. Hast du einen Rucksack mitgebracht?“, fragt Philipp, einer der | |
| fest angestellten Pädagogen des sechsköpfigen Schlüter-Teams. „Nein. Ich | |
| habe meinen Koffer, den kann ich nehmen.“ David lacht nicht, er meint das | |
| ernst. Als Philipp weg ist, um ihm einen Rucksack zu suchen, sagt David: | |
| „Ich glaube, dass morgen sowieso mein einziger Tag in der neuen Schule sein | |
| wird. Wenn ich Glück habe, holt mich meine Mutter gleich von der Schule | |
| ab.“ | |
| David hat fünf Geschwister, das jüngste ist noch ein Baby. Als Schlüter das | |
| Gespräch mit ihm hatte, hier am großen Esstisch, war Davids Mutter auch | |
| dabei. „Warum glaubst du, möchte deine Mutter dich nicht bei sich haben?“, | |
| fragte Schlüter. „Sie hat keine Zeit, sich um mich zu kümmern.“ Die Mutter | |
| wird wütend, niemand kümmere sich mehr um ihn als sie. „Das glaubt sie, und | |
| das ist der Punkt“, meint Schlüter heute. Oft müssten Eltern mindestens | |
| genauso viel im Umgang mit dem anderen lernen wie die Kinder. | |
| Outlaw versteht Heimerziehung als familien-analoges, nicht als | |
| Familien-Ersatz-Modell. Ulli bleibt Ulli, er wird nie „Papa“. Die | |
| Verbindung zu den leiblichen Eltern soll aufgebaut oder verbessert werden. | |
| Doch dass die Jugendlichen, wie David, direkt von den Eltern kommen, ist | |
| eher die Ausnahme. Die meisten waren vorher in psychiatrischen | |
| Einrichtungen, im Jugendgefängnis, in anderen Heimen oder bei | |
| Pflegefamilien. | |
| ## Die Feiertage sind besonders schlimm | |
| Max*, 16 Jahre, lebt seit zweieinhalb Jahren bei Ulli, er hatte innerhalb | |
| von drei Monaten zwölf Einrichtungen durchlaufen, ging nicht zur Schule. | |
| Heute zieht er morgens los, macht nachmittags mit einem Pädagogen | |
| Hausaufgaben und geht zweimal pro Woche zum Fußballtraining. Über | |
| Weihnachten fliegt er mit Ulli und fünf anderen Jungs nach Sri Lanka zum | |
| Tauchen, weil die Feiertage besonders schlimm sind. „Wenn die Jungs ihre | |
| Eltern anrufen oder schreiben, und die reagieren nicht, dann muss man ihnen | |
| die Erwartungen nehmen. Du liebst deinen Vater, das ist auch richtig so, | |
| und wenn du ihm schreiben willst, schreib. Aber erwarte nicht, dass er dir | |
| zurückschreibt.“ Ulli weiß, dass das hart ist, das gehe über die | |
| Schmerzgrenzen hinaus, aber danach ist ein Umgang mit den Eltern vielleicht | |
| möglich. | |
| Schlüter hat nur Jungs auf dem Hof. Bevor er jemanden aufnimmt, trifft er | |
| ihn vorher mindestens viermal. Und einmal spricht er mit dem Jungen allein | |
| – weit weg von Psychologen, Beamten, Eltern und Ärzten. Schlüter muss | |
| merken, dass er irgendwo anknüpfen kann. Ohne Beziehung gibt es kein | |
| Vertrauen. Und das ist für Schlüter die Basis für seine pädagogische | |
| Arbeit. Zusammen mit der individuellen Förderung. Jedes Kind hat | |
| Fähigkeiten, und die gilt es zu finden. „Ich frage die Jungs am Anfang, was | |
| sie können. Vielen fällt nichts ein, weil es ja oft darum geht, was sie | |
| alles nicht können.“ Ulli spitzt die Lippen, ein schriller Pfiff tönt über | |
| den Hof. „Und das? Kannst du das?“ Auch mit Pfeifen kann Jugendhilfe | |
| starten. | |
| Der einzige Grund, sagt Ulli, Jugendliche geschlossen unterzubringen, sei, | |
| wenn jemand so schnell abhaut, dass kein Beziehungsaufbau möglich ist. Dann | |
| müsse man den Jugendlichen zwingen, Zeit für den Vertrauensaufbau zu | |
| schaffen. Aber nur, und darauf legt er ganz viel Wert, wenn die Qualität | |
| der Einrichtung überragend, ein langfristiges Konzept mit und für den | |
| Jugendlichen geplant ist. | |
| ## Jugendämter unter Zeitdruck | |
| Nach Meinung von Markus Wietkamp, bei Outlaw für Nordrhein-Westfalen | |
| zuständig, machten es sich die Jugendämter manchmal zu einfach mit der | |
| Entscheidung für eine geschlossene Unterbringung (GU), vielleicht | |
| gezwungenermaßen: „Wenn Jugendliche aus elf Einrichtungen fliegen, dann hat | |
| der zuständige Sachbearbeiter meterdicke Akten über den Jugendlichen vor | |
| sich liegen, alle zwei Wochen wieder.“ Wird dieser Jugendliche dann in eine | |
| „Geschlossene“ verlegt, sind die Akten sechs Monate vom Tisch. Erst dann | |
| muss ein Wiederbewilligungsantrag gestellt werden. | |
| Gegen diesen Vorwurf nimmt Familie Schulz in Brandenburg das Jugendamt in | |
| Schutz. Auch sie sind eine „Endstation“ für Jugendliche, wie der Hof von | |
| Ulli. Bis sich der Familienrichter für eine geschlossene Unterbringung | |
| entscheide, dauere es lange. Aber gute Einrichtungen seien rar und teuer, | |
| oft seien Jugendämter unter Zeitdruck. | |
| 65.000 Jugendliche befinden sich aktuell in Jugendhilfe-Einrichtungen, 354 | |
| davon in geschlossener Unterbringung. Und es gibt nicht viele Menschen, die | |
| diese Jugendlichen aufnehmen wollen, in einer passenden Umgebung leben und | |
| die pädagogisch zwingend erforderliche Ausbildungen haben. | |
| ## Die Eheringe waren futsch | |
| „Wenn man diesen Job macht, muss man leiden können“, sagt Werner Schulz und | |
| seufzt. Die meisten Dörfer der Outlaw-Standortprojekte sind klein, jeder | |
| kennt jeden, geredet wird viel. „Wenn ein zehnjähriger Junge auf dem | |
| Spielplatz seine Hose runterzieht und allen Mädchen seinen Penis zeigt, | |
| weil er traumatisiert ist, dann muss man ihn vom Spielplatz abholen können, | |
| ohne sich zu schämen. Und die hohe Kunst ist dann, ihn nicht als ’Heimkind‘ | |
| zu stigmatisieren.“ | |
| Schulzes haben keine Eheringe mehr, geklaut. Ein Junge wollte aus dem | |
| Fenster springen, ein anderer attackierte Schulze mit dem Küchenmesser. | |
| Abgewehrt hat er ihn mit einem dicken Buch, ihm das Messer aus der Hand | |
| genommen und mit ihm gerungen. Das war ein Schock, aber Angst hatte er | |
| trotzdem nicht. | |
| Tims* Lehrerin, im gleichen Dorf, hatte Angst. Der 13-jährige Tim sieht aus | |
| wie Michel aus Lönneberga. Ein dünner, kleiner Junge, blond, mit weit | |
| auseinanderstehenden Schneidezähnen. Vor eineinhalb Jahren hat er mit der | |
| Schere ihre Hand auf der Tischplatte festgenagelt. Schulz hat sich dafür | |
| eingesetzt, dass Tim auf der Schule bleiben konnte. Seitdem ist nichts mehr | |
| passiert. „Tim hat gemerkt, dass einer, komme was wolle, hinter ihm steht.“ | |
| Sieben grinsende Gesichter hat Tim heute in seinem Hausaufgabenheft: Für | |
| jede Schulstunde, in der er sich „gut“ verhält, kriegt er von den Lehrern | |
| eins. | |
| Als Max einmal auf dem Don Bosco Hof bei Ulli Schlüter ausgerastet ist, | |
| haben zwei Pädagogen ihn festgehalten, und Ulli kippte ihm einen Eimer | |
| Pferde-Trinkwasser ins Gesicht. So etwas kommt vor. Das Wichtige sei, sich | |
| dann nicht abzuwenden. „Nicht zu sagen, wenn du das machst, dann schicke | |
| ich dich weg.“ Manchmal sei er deswegen ein „Arsch“, aber „Reibung erze… | |
| Wärme“. | |
| ## Kleine Erfolgserlebnisse | |
| Das ist seine Weisheit. Und sie scheint zu funktionieren. Alle Jungs auf | |
| seinem Hof sind bis auf David schon länger als ein Jahr da. Die meisten | |
| bleiben durchschnittlich drei Jahre, bis sie 18 sind. Zu kurz sei das, fast | |
| immer. Schulzes beherbergen Kinder, die später wieder im Gefängnis landen, | |
| Schlüter auch. Was für Perspektiven haben sie? Viele gehen auf | |
| Sonderschulen, in einem Land, in dem es schon für Hauptschüler schwer ist, | |
| einen Job zu finden. | |
| Sehr viele Erfolgserlebnisse hätte man nicht, meint Ulli, manchmal müsse | |
| man sich den Job schönreden. „Aber die meisten Kinder haben Sachen erlebt, | |
| die kriegen andere in sieben Leben nicht zu spüren.“ | |
| Schulzes denken, jeder hätte eine zweite Chance verdient. Deswegen essen, | |
| schlafen, trauern und freuen sie sich mit all denen, die einen Teil ihrer | |
| Kindheit bei ihnen verbringen. „Man muss eben nach den kleinen | |
| Erfolgserlebnissen schauen.“ Schulz nickt sich selbst zu. Ein Gesicht aus | |
| Tims Heft grinst ihm entgegen. | |
| *Alle Namen geändert | |
| 16 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Hanne Bohmhammel | |
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