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# taz.de -- Georg Büchners 200. Geburtstag: Schreiben, immer schreiben
> Am 17. Oktober 1813 wurde Georg Büchner geboren. In nur 23 Lebensjahren
> hat der Schriftsteller und Revolutionär Weltliteratur geschaffen.
Bild: Forever young: Diese Bleistiftzeichnung von 1833 stellt mit hoher Wahrsch…
Kennengelernt haben sie sich in Straßburg, im Herbst 1833 wandern sie durch
den Odenwald in Richtung Heidelberg und irgendwann schreibt Alexis Muston
in sein Tagebuch, dieser Georg sei „ein Freiheitsbegeisterter“. Unterwegs
zeichnet er noch ein skizzenhaftes Porträt des so genialisch anmutenden und
zu früh verstorbenen Wandergefährten. Man sieht eine hohe Stirn, gewelltes,
halblanges Haar und ein zierliches Gesicht. So muss der junge Mann
ausgesehen haben, der in knapp vier Jahren alles geschrieben hat, was wir
von ihm kennen.
Von 1834 bis 1837 brachte Büchner seine dramatisches und erzählerisches
Werk zu Papier, schloss sein Medizinstudium ab, promovierte mit einer
Dissertation über die Schädelnerven der Flussbarbe und musste wegen der
sozialrevolutionären Flugschrift „Der Hessische Landbote“ fliehen.
In Zürich fand er Zuflucht vor den Häschern des hessischen Ständestaates,
verstarb aber noch vor Vollendung des 24. Lebensjahres. Typhus. Büchner war
ein rastlos Schreibender. Es gibt kein zweites literarisches Werk, das
innerhalb so kurzer Zeit entstanden ist und ohne Ausnahme Weltliteratur
wurde.
Und es gibt keinen zweiten, der in Briefen seinen Gefühlen so freien Lauf
lässt – vor allem wenn sie an Wilhelmine Jaeglé in Straßburg gerichtet
sind, der lange Zeit heimlich Verlobten. Der Büchner der Briefe, so scheint
es, offenbart sich mit jeder Zeile. Man sollte aber vorsichtig sein,
schließlich war da ein Geist unterwegs, der immer wieder von sarkastisch
nihilistischen Aufwallungen heimgesucht wurde und schon in jungen Jahren
wusste: Ist ja alles nur Spiel und auch dann nur Schein, wenn wir
authentisch zu sein meinen.
Spielmetaphern durchziehen das Werk dieses Dichters, von dem wir wenig mehr
wissen, als dass er vor allem eines gemacht hat: schreiben, immer
weiterschreiben.
## Lücken im Nachlass
Für die spärliche Quellenlage im Casus Büchner soll unter anderem
Mademoiselle Jaeglé verantwortlich sein, die, nachdem sie die Nachricht
erhalten hatte, wie schlecht es um den Geliebten steht, nach Zürich reist.
Dort hält sie die Hand des Sterbenden und danach seinen schriftlichen
Nachlass in Händen. Bei der Durchsicht soll sie angesichts freizügiger
Formulierungen in Schockstarre verfallen sein. Dann, so die These, habe sie
alles vernichtet, was ihr nicht jugendfrei erschien.
Die Pfarrerstochter steht unter dem Verdacht eine Yoko Ono des 19.
Jahrhunderts gewesen zu sein. Besonders schmerzhaft für die Germanistik: Am
Ende seiner Tage beschäftigte Büchner sich ganz offensichtlich mit dem
Renaissancekünstler und Lebemann Pietro Aretino, der in Kupferstichen und
derben Versen ein Panorama der Fleischeslust hinterlassen hat. Ob Büchner
tatsächlich an einem Theaterstück mit einem Protagonisten Pietro gearbeitet
hat, werden wir nie wissen, es sei denn, auf einem Speicher im Hessischen
tauchen doch noch bislang unentdeckte Manuskripte auf.
Dass die Forschung sich immer wieder dem Verhältnis Büchners zu seiner
Verlobten widmet, ist verständlich. Man kann sich schon fragen, warum um
alles in der Welt ein nach heutigem Verständnis noch „naseweiser“
Medizinstudent über ein derart ausgebildetes Rezeptions- und
Fantasiesensorium verfügen konnte, dass er in seine Texte alles packte,
angefangen vom Revolutionsdiskurs über die Naturberauschung bis hin zu
psychoemotionalen Abgründen und immer wieder auch Szenarien des Begehrens.
## In allem leidenschaftlich
Ist es tatsächlich so, wie Hermann Kurzke in seiner Biografie meint,
Büchner habe eine Zweitbeziehung zu einer Frau des professionellen Gewerbes
gepflegt und O-Töne von ihr in sein Werk einfließen lassen? Ein Beleg
hierfür ist dem Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte die
Stelle in Alexis Mustons Wanderskizzen, an der es heißt, Büchner sei in
allem leidenschaftlich gewesen, „im Studium, in der Freundschaft, in seiner
Bewunderung und Abneigung“. Und dann: „Er hat sich in einer Art mystischer
Anbetung in ein gefallenes Mädchen verliebt, das er auf die Stufe von
Engeln zu erheben träumte.“
Es kann so gewesen sein. Dagegen steht, dass ein derart mit Shakespeare
vertrauter und von poetischer Fantasie beflügelter Zeitgenosse wie Büchner
nicht unbedingt direkten Anschauungsunterricht nötig gehabt haben muss, um
einen Monolog wie den der Marion in „Dantons Tod“ zu schreiben. Da erzählt
die Geliebte dem müden und eskapistischen Revolutionshelden, wie es ihr mit
einem jungen Mann erging, in dessen Gegenwart sie zum Meer wurde, „was
alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte“.
Auf solch schmalem Grat der Spekulation bewegt man sich, will man ein Leben
erzählen. Interessanter ist da schon, sich noch einmal zu vergegenwärtigen,
warum der Dichter Büchner seiner Zeit so weit voraus war. In „Dantons Tod“
zum Beispiel verwendet er wörtlich Passagen aus Geschichtswerken zur
französischen Revolution von Adolph Thiers und François-Auguste Mignet.
Zum ersten Mal öffentlich gelesen wurde der Text Anfang 1835 in der Wohnung
des Frankfurter Journalisten, Dramatikers und Büchner-Förderers Karl
Gutzkow. Was die Anwesenden nicht wissen konnten: Die Soiree war die
Geburtsstunde des dokumentarischen Theaters. Büchner selbst konnte nicht
anwesend sein. Schon kurz darauf wurde er steckbrieflich gesucht und setzte
sich nach Straßburg ab, im Gepäck die Erzählung „Lenz“, diesen
bildgewaltigen Urstrom einer Künstler-Verstörung. Auf der Flucht sollten
noch die Komödie „Leonce und Lena“ und mit dem „Woyzeck“ die Ballade e…
gehetzten Borderliners entstehen, in der die Szenen so knapp hintereinander
geschnitten sind, dass man ein Drehbuch zu lesen meint.
## Der Erfinder des dokumentarischen Theaters
Büchners dramatische Texte fordern die Theater bis heute. „Leonce und Lena“
etwa kommt wie ein märchenhaftes Spiel daher, unter dem Zuckerwerk der
Romanze verbirgt sich aber ein nihilistischer Abgesang auf die Möglichkeit
romantischer Liebe. Zu diesem Kern vorzustoßen, ist so einfach nicht.
Es ist also nicht wirklich verwunderlich, dass die Theater selbst jetzt im
Jubiläumsjahr einen Bogen um diesen Text machen, sich dafür aber äußerst
zahlreich dem Revolutionsdrama an sich zuwenden – verständlicherweise,
denkt man angesichts des ideologisch motivierten Mordens in „Dantons Tod“
doch unwillkürlich an die Volksaufstände von Tunesien über Ägypten bis
Syrien. In Büchners Erstling „Dantons Tod“ findet sich aber auch jener
Zwiespalt, der in seinem berühmten Fatalismusbrief die Tonart vorgibt,
dieses „Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den
menschlichen Verhältnissen eine unabänderliche Gewalt“.
Das könnte auch Danton sagen und sich fragen, warum für Menschenrechte
kämpfen, wenn der, für den sie erkämpft werden sollen, weiterhin „lügt,
mordet und stiehlt“. Es ist nicht zuletzt dieser nihilistisch angehauchte
Zweifel, der aus „Dantons Tod“ einen so aktuellen Theatertext macht und
dafür sorgt, dass er in den Fokus rückte, als die Theater vor der Frage
standen: Was tun, jetzt, da Büchners 200. Geburtstag vor der Tür steht?
## Sammelsurium zerstückter Handlungen
Suchten sie dagegen im „Woyzeck“ nach Antworten, gaben sie sich nicht
besonders Mühe oder entschieden sich gleich für die Musical-Bearbeitung von
Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan, obwohl da doch immer wieder
ein lautes Knirschen zu hören ist, sobald Text und Song aufeinandertreffen.
Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang: Ist der fragmentarische
Charakter der handschriftlich mehrmals umgestellten Szenenfolge des
„Woyzeck“ tatsächlich nur Stückwerk und das Resultat eines eiligen
Schreibens auf der Flucht, oder nicht doch Büchners Methode, die Welt so
darzustellen, wie er sie sieht: als Sammelsurium „zerstückter“ Handlungen
und Interessen.
Begreift man Büchners Montagetechnik als Methode des Samplings, die von der
Popliteratur wieder aufgegriffen wurde, verwundert nicht, warum dem
Popregisseur Stefan Pucher am Schauspielhaus Zürich jüngst eine so
schlüssige „Woyzeck“-Inszenierung gelungen ist. Da haben zwei Brüder im
Geiste genau in jener Stadt zusammengefunden, in der der Lebensweg des
einen endete. Seine erste Ruhestätte fand Georg Büchner auf dem
Krautgartenfriedhof nicht weit entfernt von dem Ort, wo heute das
Schauspielhaus steht. 1875 wurde er umgebettet. Heute ruhen seine
sterblichen Überreste auf dem Germaniahügel hoch über Zürich.
17 Oct 2013
## AUTOREN
Jürgen Berger
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Georg Büchner
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Geburtstag
deutsche Literatur
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