# taz.de -- Rückschau Dokfilmfestival Leipzig: Erotik ist erlernbar | |
> Von Sehnsüchten und sozialen Miseren: Die Beiträge des diesjährigen | |
> Dokumentarfilmfestivals überzeugen durch eine besondere Weltbezogenheit. | |
Bild: Die Goldene Taube erhielt Carlo Zorattis Film „The Special Need". | |
Am Samstag ging das 56. Leipziger Festival für Dokumentar- und | |
Animationsfilm zu Ende. Obwohl draußen die Sonne an allen Tagen zwischen | |
den vielen wunderbaren Filmen schien, sahen etwa 40.000 Zuschauer das | |
Programm von 345 Beiträgen. Anfang der Nullerjahre waren es noch um die | |
Hälfte weniger Publikum gewesen. | |
Für die Mehrzahl der Menschen, die im Dokumentarfilmbereich arbeiten, hat | |
sich die Lage „deutlich verschlechtert“, betonte Festivaldirektor Claas | |
Danielsen in seiner Eröffnungsrede. Teils liege das am „signifikanten | |
Rückgang der durchschnittlichen Finanzierungsbeiträge von Fernsehsendern“, | |
teils an der „gravierenden“ Veränderung des Medienmarkts. | |
Trends auszumachen ist schwer. Es gab selbsttherapeutische Filme aus der | |
Ich-Perspektive, wie Maximilian Feldmanns „Caracas“, der von der Depression | |
des Filmemachers und dem untauglichen Versuch handelt, sie mit einer Reise | |
zu bewältigen. | |
Oder Petri Luukkainens „My Stuff“ erzählt von einem einjährigen Experimen… | |
Wie ist es, noch einmal bei null anzufangen? Mitten im Winter räumt der | |
Filmemacher seine Wohnung aus und lagert alle seine Sachen in einem | |
Lagerraum. Jeden Tag darf er nur ein Ding aus dem Lager zurückholen. Zu | |
Beginn des Experiments rennt er nackt zum Lager, um einen Mantel zu holen. | |
In einem Videotagebuch hält er seine Erfahrungen fest. Manchmal spricht er | |
auch mit seiner Oma, die sagt, Frauen bräuchten mehr Sachen. „My Stuff“ ist | |
zugleich lustig und ernst. Zunächst war der Film finanziell nicht | |
abgesichert; erst als Luukkainen am Ende seines Experiments sah, dass das | |
Material gut war, kümmerte er sich um die Finanzierung. | |
## Straßenkinder von Odessa | |
Der junge ukrainische Regisseur Juri Rechinsky war in einer Lebenskrise, | |
als er von Straßenkindern erfuhr, die in einem Kellerloch in Odessa leben, | |
Drogen nehmen, im Müll nach Verwertbarem suchen. Bei der ersten Begegnung | |
im verdreckten Keller, als er sah, wie sich die Jugendlichen Drogen in ihre | |
lädierten Venen spritzten, musste er kotzen. Er entschied sich, die | |
Jugendlichen mit der Kamera zu begleiten. Über einen Kurzfilm, den er | |
zunächst drehte, fand er Geldgeber für die lange Version, die in Leipzig | |
gezeigt wurde. Manchmal hat „Sickfuck People“ etwas Albtraumartiges, wobei | |
die furchtbarsten Szenen nicht die sind, in denen sich die Jugendlichen | |
selbst zerstören, sondern die, in denen „Normalbürger“ auf sie reagieren. | |
Der mit dem Preis der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di ausgezeichnete | |
finnische Film „Hilton! – Here for Life“ hat ein ähnliches Szenario. Es | |
geht um Jugendliche in einem heruntergekommenen Neubauviertel in Helsinki. | |
Manche hauen immer wieder mit ihrem Kopf gegen die Wand, schneiden sich, | |
rauchen pausenlos und trinken, zerreißen alle Rechnungen. Trotzdem sind sie | |
irgendwie aufgehoben in einer Gemeinschaft und helfen einander. Die Grenzen | |
zwischen der Filmemacherin und ihren Helden verlaufen dabei fließend. Sehr | |
schön sind die Handybilder, die die Jugendlichen von sich selbst | |
aufgenommen haben. Und wie in dem ukrainischen Film, bekommt auch hier eine | |
der Heldinnen am Ende ein Kind. | |
## Verhängte Fenster | |
Viele Filme handelten von Katastrophen und Kriegen. „Stop Over“, der mit | |
der Talenttaube für junges Kino ausgezeichnet wurde, begleitet Flüchtlinge | |
in Athen, wo der Regisseur Kaveh Bakhtiari zufällig seinen iranischen | |
Cousin Mohsen wieder trifft. Während der Regisseur einen Schweizer Pass | |
hat, ist Mohsen als illegaler Einwanderer gekommen, saß dafür drei Monate | |
lang im Gefängnis und hängt nun in Athen fest, wo er sich mit anderen | |
„Illegalen“ eine Wohnung mit stets verhängten Fenstern teilt. | |
Fast ein Jahr lang begleitet der Filmemacher ihren von Angst und | |
Klaustrophobie geprägten Alltag, in dem sie auf gefälschte Pässe warten | |
oder den Anruf eines Schleusers. Gebannt verfolgt man das Schicksal seiner | |
Helden. Der Film ist schnörkellos und direkt. Für einige geht die | |
Geschichte gut aus, für andere nicht. Nach der Vorführung kommt es einem | |
fast pervers vor, sofort in den nächsten Film zu hasten. | |
Es gab allerdings auch viele sozusagen positive Filme – „Lost Horizon“ et… | |
berichtet von der Sehnsucht der Bolivianer nach dem Meer. 1879, nach dem | |
„Salpeterkrieg“, hatte das Land seinen Zugang zum Pazifik an Chile | |
verloren. Immer noch hofft man darauf, den Küstenstreifen zurückzugewinnen, | |
hat vor dem Internationalen Gerichtshof geklagt und unterhält eine Marine, | |
die im Titicacasee übt. Robert Bohrer und Emma Rosa Simon beobachten junge | |
Rekruten, die teils eher zufällig bei der Marine landeten, erzählen von den | |
„Feiern des Tages des Meeres“. Manches wirkt lustig und absurd, selten sah | |
man so sympathische, unbefangene, unmilitaristische SoldatInnen. | |
In dem israelischen Film „Do you believe in Love?“ geht es um eine | |
Heiratsvermittlerin, die im fortgeschrittenen Stadium einer multiplen | |
Sklerose keinen Finger mehr bewegen kann. Ihren alten, jungen, behinderten | |
und „normalen“ Klienten versucht Tova alle romantischen Flausen auszureden. | |
Sie ist sehr klug und hat mehr als 600 Ehen gestiftet. Ihre eigene | |
Geschichte ist bewegend. | |
## Sehnsucht nach Liebe | |
Der mit der Goldenen Taube im Deutschen Wettbewerb ausgezeichnete Film „The | |
Special Need“ von Carlo Zoratti erzählt von Enea, einem Autisten, Ende | |
zwanzig, der sich nach Liebe und Sex sehnt. Seine Freunde, Alex und Carlo, | |
der Regisseur des Films, unternehmen mit ihm eine Reise, erst nach | |
Österreich, in ein Bordell, dann nach Deutschland ins „Institut zu | |
Selbstbestimmung Behinderter“, wo es Erotikworkshops für Behinderte in | |
pädagogischer Betreuung gibt. „The Special Need“ ist ein warmherziges | |
Roadmovie. | |
In der Eröffnungsrede hatte es geheißen, jeder der Festivalfilme hätte sich | |
Zeit genommen, „unser Weltbild zu bereichern, Vorurteile aufzubrechen und | |
uns ein tieferes Verständnis der Existenz zu vermitteln“. Was zunächst wie | |
eine Floskel geklungen hatte, würde man nach dem Festival unterschreiben. | |
Es wäre auch sinnvoll, die Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen | |
Dokumentarfilmkanals zu fordern. | |
5 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
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