| # taz.de -- Asylbewerber in Brandenburg: Behörden lassen Flüchtlinge alt auss… | |
| > 14 junge Flüchtlinge, die unbegleitet nach Deutschland kamen, werfen der | |
| > Brandenburger Ausländerbehörde vor, sie pauschal für volljährig erklärt | |
| > zu haben. | |
| Bild: Flüchtlinge in der Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt. | |
| Gerade hat Abdirahman Adeen seinen Deutschunterricht beendet und sitzt in | |
| einem Kreuzberger Café. Er sieht jung aus, ist schüchtern und möchte nichts | |
| trinken. Würde Adeen ein Bier bestellen, die Bedienung würde ihn vielleicht | |
| fragen, ob er schon volljährig ist. Er könnte seinen Ausweis zeigen, | |
| demzufolge er 18 Jahre alt ist. Und das ist sein Problem. | |
| Abdirahman Adeen und 13 weitere junge Flüchtlinge werfen den Behörden vor, | |
| pauschal und ohne Prüfung nicht anzuerkennen, dass sie minderjährig sind. | |
| Sie sind Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Somalia, die ohne Begleitung | |
| ihrer Eltern über Lampedusa nach Deutschland geflohen sind. Die | |
| Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt hat ihnen nach ihrer Ankunft Papiere | |
| mit neuen Geburtsdaten ausgestellt, obwohl einige von ihnen ihre | |
| Geburtsurkunden vorlegen konnten. Das Jugendamt, das laut Sozialgesetzbuch | |
| die Jugendlichen in Obhut nehmen muss, wenn ein Jugendlicher in der | |
| Erstaufnahmeeinrichtung ankommt, ist darüber laut eigener Aussage nicht | |
| informiert worden. Es sei nicht dabei gewesen, als das neue Geburtsdatum | |
| festgelegt wurde. „Wozu auch?“, fragte die zuständige Mitarbeiterin | |
| gegenüber der taz. | |
| Für die Flüchtlinge hängt viel von ihrem Alter ab. Sind sie volljährig, | |
| werden sie auf Gemeinschaftsunterkünfte für Erwachsene in ganz Brandenburg | |
| verteilt. Dort sind die Lebensbedingungen und die Betreuung häufig | |
| schlecht, es gibt laut Personalschlüssel der Landesregierung einen | |
| Mitarbeiter auf 120 Flüchtlinge. Ist ein Flüchtling jünger als 18 Jahre | |
| alt, hat er Anspruch auf die Unterbringung in einer Einrichtung der | |
| Jugendhilfe, lebt in einer Wohngemeinschaft mit anderen minderjährigen | |
| Flüchtlingen und kann zur Schule gehen. Ein Sozialarbeiter kümmert sich | |
| dort um acht Flüchtlinge. Der größte Unterschied: Minderjährige Flüchtlinge | |
| können nicht abgeschoben werden. | |
| ## Somalische Urkunde | |
| Nach seiner Ankunft in Eisenhüttenstadt habe Adeen den Mitarbeitern der | |
| Ausländerbehörde seine somalische Geburtsurkunde gezeigt, erzählt er. Laut | |
| Urkunde ist er 16 Jahre alt. Doch die Urkunde wurde nicht anerkannt. | |
| Stattdessen erhielt er einen Ausweis mit einem neuen Geburtsdatum: 21. 8. | |
| 1995. Plötzlich war Adeen volljährig. Mindestens 13 weitere junge | |
| Flüchtlinge, die in den letzten zweieinhalb Monaten in Eisenhüttenstadt | |
| angekommen sind, haben dasselbe Problem. Die meisten von ihnen bekamen | |
| sogar ein und dasselbe neue Geburtsdatum: 31. 12. 1994. Doch wer ist für | |
| das neue Geburtsdatum der Jugendlichen verantwortlich? | |
| Die Behörden schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Bei ihrer | |
| Ankunft in Eisenhüttenstadt erhalten Jugendliche einen weißen Heimausweis, | |
| schon dieser trägt das neue Geburtsdatum. Etwas später bekommen die | |
| Jugendlichen dann die „Aufenthaltsgestattung“. Beide Dokumente wurden von | |
| der Ausländerbehörde ausgestellt. | |
| Das Innenministerium Brandenburgs bestritt das gegenüber der taz zunächst: | |
| Brandenburg sei nur für die Unterbringung zuständig, die Ausweispapiere und | |
| die Altersfeststellung würden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge | |
| (BAMF) geleistet – „oder von wem auch immer“, sagte Wolfgang Brandt, | |
| Sprecher des Innenministeriums. | |
| Später jedoch schiebt das Ministerium nach: Die Heimausweise würden von der | |
| Ausländerbehörde ausgestellt, die „Aufenthaltsgestattung“ nicht. Die | |
| Dokumente der Jugendliche zeigen jedoch, dass das nicht stimmt. Auch das | |
| BAMF antwortete auf taz-Anfrage, die Landesbehörden Brandenburgs seien für | |
| die Feststellung des Alters und die Ausstellung der Ausweispapiere | |
| zuständig. | |
| Nachdem Adeen und die anderen somalischen Jugendlichen plötzlich volljährig | |
| waren, suchten sie Hilfe bei Flüchtlingsberatungen. Joachim Runge arbeitet | |
| bei der Flüchtlingsberatung der Diakonie Eisenhüttenstadt und besuchte | |
| Adeen und zwei weitere minderjährige Flüchtlinge Ende August. „Die wirkten | |
| sehr jung auf mich“, sagt er. Runge wandte sich an das Jugendamt. Doch das | |
| Jugendamt antwortete schriftlich: Da die Jugendlichen bereits für | |
| volljährig erklärt worden seien, könne man nichts für sie tun – das | |
| Bundesamt sei zuständig. Die Jugendlichen müssten „ihre Geschicke selbst in | |
| die Hand nehmen“. | |
| Auch Johanna Meier unterstützt mit einer Gruppe von Flüchtlingsaktivisten | |
| Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt und betreut Adeen und die anderen | |
| Jugendlichen seit ihrer Ankunft. Sie heißt eigentlich anders, hat aber | |
| Angst, ihr Besuchsrecht zu verlieren, wenn sie mit ihrem echten Namen in | |
| der Zeitung erscheint. „Wir haben wochenlang fast täglich an das Jugendamt | |
| geschrieben“, sagt sie. Erst etwa 20 Tage nach der Ankunft von Adeen und | |
| wohl auf Druck der deutschen Unterstützer hin traf sich das Jugendamt mit | |
| einigen der Jugendlichen. „Du siehst jung aus, aber ich kann dir nicht | |
| einfach glauben“, habe die Frau vom Jugendamt zu Adeen gesagt, erzählt er. | |
| Das Treffen mit dem Jugendamt nützte nichts: Adeen und neun weitere junge | |
| Flüchtlinge wurden bereits auf Unterkünfte für Erwachsene in Brandenburg | |
| verteilt, viele von ihnen ganz ohne Gespräch mit dem Jugendamt. Mindestens | |
| vier weitere Minderjährige mit neuem Geburtsdatum sind noch in | |
| Eisenhüttenstadt und warten auf ihren Transfer. Auch mit ihnen hat das | |
| Jugendamt bis heute nicht gesprochen. | |
| Ob die Jugendlichen tatsächlich volljährig sind oder nicht, sei nicht | |
| entscheidend, sagt Niels Espenhorst vom Bundesfachverband unbegleitete | |
| Minderjährige Flüchtlinge (BUMF) – sobald sie angeben, minderjährig zu | |
| sein, müssten sie vom Jugendamt in Obhut genommen werden. „Eine seriöse | |
| Überprüfung des Alters und des Hilfebedarfs des Jugendlichen dauert mehrere | |
| Monate“, sagt Espenhorst. „Viele Flüchtlinge sind traumatisiert und kommen | |
| ohne Papiere in Deutschland an.“ | |
| Doch selbst wenn das Jugendamt informiert ist, sei den Flüchtlingen in | |
| Brandenburg noch nicht geholfen, sagt Espenhorst. „Die Situation für | |
| minderjährige Flüchtlinge in Brandenburg ist katastrophal.“ In den letzten | |
| Monaten besuchte er die zuständigen Jugendämter, die Ausländerbehörde und | |
| das Asylbewerberheim in Eisenhüttenstadt. In keinem anderen Bundesland gebe | |
| es so wenig Problembewusstsein: „Es war erschreckend, wie viel | |
| Gleichgültigkeit uns da entgegengeschlagen ist.“ | |
| Espenhorst berichtet von einem weiterem Problem in Brandenburg: Flüchtlinge | |
| im Alter von 16 und 17 Jahren werden grundsätzlich in | |
| Gemeinschaftsunterkünfte für Erwachsene gebracht, selbst wenn ihre | |
| Minderjährigkeit anerkannt wird. Das brandenburgische Innenministerium | |
| bestätigt diese Regelung: 16- und 17jährige Jugendliche kommen nicht in die | |
| Jugendhilfe. Demnach hätte Adeen zwar auch dann, wenn die Behörden sein | |
| Alter glauben würden, kein Anrecht auf die Unterbringung in der Jugendhilfe | |
| – wäre aber vor Abschiebung geschützt. | |
| Deshalb versuchen die Jugendlichen aus Eisenhüttenstadt nun, ihre | |
| Minderjährigkeit zu beweisen. Doch wenn die Volljährigkeit erst einmal in | |
| einen Ausweis geschrieben wurde, ist das schwer. Adeen lebt jetzt in einem | |
| Asylbewerberheim für Erwachsene in Eberswalde. Dort hat er Angst und | |
| schläft schlecht. „Es gibt keine anderen Jugendlichen, und es gibt den | |
| ganzen Tag nichts zu tun“, sagt er. Er und seine Freunde, die anderen | |
| jungen Flüchtlinge aus Eisenhüttenstadt, leben jetzt auf ganz Brandenburg | |
| verteilt. | |
| Adeen möchte in Deutschland zur Schule gehen und Informatiker werden. Seine | |
| größte Angst ist, nach Italien abgeschoben zu werden. Ende des Jahres läuft | |
| Adeens Ausweis aus. Danach ist seine Zukunft ungewiss. | |
| 19 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Kersten Augustin | |
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