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# taz.de -- Brauchen wir das Böse?: Der Kampf ist noch nicht entschieden
> In vielen Bereichen ist es am Verschwinden. Aber es gibt Menschen, die
> das Böse zurückgewinnen wollen.
Bild: Da ist die Hölle noch an ihrem Platz: Deckenbemalung der Pfarrkirche St.…
HAMBURG taz | Das Böse ist ein seltener Gast geworden. Man trifft es
gelegentlich, wenn Boulevardzeitungen über Sexualstraftäter schreiben.
Manchmal ist in den Feuilletons die Rede davon, dass es zurückkehren sollte
in die allgemeine Debatte. Etwa nachdem Kinder in Liverpool ein Kleinkind
getötet haben. Die sympathischeren unter den Feuilletonisten schreiben
zurück, dass der Ruf nach dem Bösen verständlich, aber nicht hilfreich sei.
Kürzlich war ich im Gottesdienst, es war Reformationstag und die Rede von
Luther – und daher nahe liegend, dass der Pfarrer deutliche Worte fand. Er
sagte, dass das Sprechen über das Böse aus der Kirche verschwunden sei,
vielleicht, weil man die Bildungsbürger, die das Restpublikum stellten,
nicht verprellen wolle. Aber damit, so der Pfarrer, habe man etwas
Wesentliches verloren.
Ich mochte die Predigt. Aber das ist kein Wunder, denn ich habe die
evangelische Kirche schon lange im Verdacht, es allen so recht machen zu
wollen, dass sie vor lauter Milde und Verständnis eine Art Wohlfühl-Flummi
geworden ist, der dennoch keinen Anklang findet. Aber das ist eine andere
Frage.
Wenn man bei Pastor Torsten Morche in Hamburg-Altona nachfragt, warum das
Verschwinden des Bösen als Begriff ein Verlust sein sollte, meint er: „Uns
ist die Möglichkeit genommen, in der Öffentlichkeit über Schuld zu
kommunizieren.“ Das Böse habe man privatisiert. Es sei nun ein Problem des
Einzelnen, der hoffe, mit dem richtigen Buch, der richtigen Therapie
irgendwann endgültig damit abzuschließen. Aber das sei müßig, zumindest aus
christlicher Sicht, denn eine Welt ohne das Böse sei erst die durch
Christus erlöste, sagt Pastor Morche.
Vielleicht ist es das, was seiner These etwas so Kathartisches gibt: ein
kurzes Luftholen vom Anspruch der Selbstoptimierung. Und, zugegebenermaßen:
die Befriedigung, das Nicht-Gute an sich selbst und anderen gleichermaßen
feststellen zu dürfen. Nicht anzunehmen, dass – dies ist ein weiter Begriff
des Bösen – meine Entscheidung, nur 50 Cent Kollekte zu geben, weil ich
danach noch Kaffee trinken möchte, den Umständen, also meinem Arbeitgeber
anzulasten ist, der mich zu schlecht bezahlt. Nicht anzunehmen, dass der
Junge, der meine Tochter im Kindergarten haut, glaubt, dies sei ein
lustiges Spiel. Zu denken, dass das Böse eine Karte im Spiel ist, die
gelegentlich auftaucht.
Pastor Morche sagt, dass die Kirche hier über verbrannte Erde gehe, dass
sich Generationen daran abgearbeitet haben, das Reden über die schlechten
Gläubigen, über ihre Verfallenheit an die Sünde abzustellen. Und nun? „Ist
man auf der anderen Seite des Pferdes heruntergefallen.“ Die Pfarrer und
Pfarrerinnen sprechen nicht mehr von bösen Menschen. Aber sie sprechen auch
nicht mehr vom Bösen im Menschen.
Was gewinnt man, wenn man davon spricht, jenseits der
Pillepalle-Bösartigkeiten? Einen klareren Blick, ohne jene
Sozialpädagogen-Verklärung, über die sich so großartig herziehen lässt, wie
Hans Magnus Enzensberger es getan hat? – „Da alle anderen für nichts etwas
können, am allerwenigsten aber für sich selbst, existieren sie als Personen
nicht mehr, nur noch als Objekte der Fürsorge.“ Ist es eine zu einfache
Welt, wenn man sich an seine Grundschulzeit zurückerinnert, in der man
gehässig war zu einem Jungen, der nicht Schlimmeres getan hatte, als
dicklich zu sein und bei seinen Großeltern zu wohnen und zu konstatieren,
dass diese grundlose Bosheit böse ist?
Es gibt einen sehr klugen Aufsatz des Frankfurter Juristen Klaus Günther,
der darüber nachdenkt, warum die Freude an der Begrifflichkeit des Bösen
kein harmloser Feuilletonisten-Knallfrosch ist. Das Bild vom Menschen als
Wolf, als beharrlich böser Existenz, findet er als politisch wirksame Idee
im Deutschland des 19. Jahrhunderts – und deutet es als Erklärungsversuch
der enttäuschten Intellektuellen für das Überleben der autoritären Regime,
vielleicht auch als Erschrecken über die Folgen der Industrialisierung. Es
ist das Bild einer Welt, in der sich alles nach Freund und Feind scheidet,
und Günther überrascht es nicht, dass es in Zeiten neuer Verunsicherung
Konjunktur hat.
Er nennt es eine „Flucht ins moralische Pathos“. Aber das solle nicht
vernebeln, dass das Hauptargument der Verfechter des Bösen nicht treffe:
nämlich dass derjenige, der sich in der freien Wahl zwischen Gut und Böse
für Letzteres entschieden hat, vollständig für das Böse verantwortlich ist
– und damit die Debatte endet. Eine Gesellschaft, die für ein bestimmtes
Verhalten Verantwortung zuschreibt – der Familie etwa, deren Kind auf die
Straße läuft, auf der Autofahrer mit 50 Stundenkilometern durchrasen dürfen
– und für anderes nicht – in diesem Fall dem regelkonformen Autofahrer –,
diese Gesellschaft muss sich darauf einlassen, über ihre Kriterien der
Verantwortungszuschreibung und -entlastung zu diskutieren.
Es scheint, als sei der Kampf ums Böse noch nicht entschieden. Aus den
Kinderbüchern ist es verschwunden. Die Eltern, die Astrid Lindgren
vorlesen, greifen, aber das ist jetzt ein persönlicher Eindruck, den ich
nicht belegen kann, lieber zu „Pippi Langstrumpf“ als zu „Mio, mein Mio�…
wo Ritter Kato Kinder verfolgt, ohne dass man erführe warum, und am Ende
von ihm nur eine Klaue bleibt. Und die Zoologen lächeln über „Brehms
Tierleben“, wo der Marder als bösartig galt, vielleicht weil er Tiere
angreift, die viel größer sind als er; vielleicht, weil er sogar Menschen
attackiert. Die Neurobiologen wiederum finden in ihren Computerbildern von
Straffälligen Gehirnareale, deren Tätigkeit für sie auf mangelnde
Empathiefähigkeit hinweist. Aber sie hantieren nicht wie ihre
kriminologischen Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert mit einem Konzept des
Bösen. Das Moralische ist ihnen fremd.
Die Kategorie des Bösen ist nicht so unerschütterlich, wie man meinen
könnte. Sie lehnt sich an so instabile Größen wie finanzielle Ressourcen
an, das glaubt zumindest Klaus Günther, der festgestellt hat, dass
abweichendes Verhalten dann als unkorrigierbar durch soziale Maßnahmen
gilt, wenn Ebbe herrscht in der Kasse des Wohlfahrtsstaates.
Guntram Knecht, Chefarzt der forensischen Psychiatrie am Hamburger Klinikum
Ochsenzoll, sagt, dass abweichendes Verhalten heute immer häufiger
pathologisiert wird: „Wer sich normwidrig verhält, muss krank sein.“ Diese
Entmoralisierung haben zwar viele begrüßt – ihren Verfechtern hat es jedoch
den Vorwurf eingetragen, dass Therapie statt Strafe nur eines der vielen
Instrumente zur sozialen Disziplinierung sei.
Für Guntram Knecht liegt in der Pathologisierung die Gefahr, „Weichspüler
zum Wegsperren“ zu werden. Wo der Sicherungsverwahrte nach geltendem Recht
entlassen werden müsste, kann das Therapie-Unterbringungsgesetz das
Schlupfloch bieten, ihn als mutmaßlich Kranken weiter festzuhalten.
Angesichts einer Kleinstaaterei schön anzusehender Therapieangebote guckten
viele gar nicht mehr hin, ob es hilfreich sei, einen Therapieplatz durch
einen Therapieunwilligen besetzen zu lassen, während ein Therapiewilliger
im Regelvollzug vergeblich auf einen Platz warte. Währenddessen, so sagt
Knecht, drücke man sich vor der eigentlich anstehenden Diskussion: Die
Frage, wie viel abweichendes Verhalten wir als Gesellschaft zu tolerieren
bereit sind, wie viel Restrisiko wir ertragen können.
Guntram Knecht ist alles andere als ein Hardliner, aber er sagt, dass mit
dem Begriff des Bösen auch eine pragmatische Einschätzung verloren gegangen
ist: Dass es Leute gibt, die sich bewusst entscheiden, Schlechtes zu tun.
Das Böse macht es einem nicht leicht: Es ist beharrlicher, als die
Gutmeinenden es gern hätten. Und es ist vielschichtiger als die Leute, die
gern mit ihm hantieren.
Über das Böse lesen Sie mehr in der taz.am.wochenende oder [1][hier]
22 Nov 2013
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## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Moral
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Kirche
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Psychiatrie
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