| # taz.de -- Psychologin Ines Melcher über Straftäter: „Niemand ist unfehlba… | |
| > In Niedersachsen werden Prognosen über Schwerverbrecher seit fünf Jahren | |
| > zentral erstellt. Psychologin Ines Melcher über Irrtum, nötigen Abstand | |
| > und schwere Fälle. | |
| Bild: "Man kann einen Straftäter nicht nur auf Straftaten herunterbrechen": Ps… | |
| taz: Frau Melcher, seit fünf Jahren gibt es das Zentrale Prognosezentrum an | |
| der Justizvollzugsanstalt Hannover. Bei der Eröffnung sagte Niedersachsens | |
| damaliger Justizminister Bernd Busemann (CDU), die Prognostiker sollten | |
| Unfehlbarkeit wenigstens anstreben … Oh, Sie seufzen. Gefällt Ihnen die | |
| Wortwahl nicht? | |
| Ines Melcher: Das ist eine Formulierung, mit der ich mich nicht anfreunden | |
| kann. Niemand ist unfehlbar. Es gibt keine Star-Gutachter, die mit | |
| 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit sagen können, dass sich der Mensch so | |
| und so verhalten wird. Es ist wie mit allem Verhalten: Man kann Menschen | |
| vor den Kopf gucken und nicht hinein. | |
| Also reden wir darüber, dass Sie als Psychologin und Gutachterin versuchen, | |
| das Restrisiko so gering wie möglich zu halten. | |
| Eine Restwahrscheinlichkeit des Irrtums bleibt immer. Aber wir können | |
| qualitativ gut arbeiten, um es zu minimieren. Wenn wir ein Gutachten | |
| erstellen, sehen wir unter anderem die Personal- und Ermittlungsakten ein, | |
| es wird ein Intelligenztest durchgeführt, es gibt Fragebögen zur | |
| Persönlichkeit, die das Selbstbild des Gefangenen zu erfassen versuchen, | |
| und sogenannte Prognoseverfahren, mit denen die Gefährlichkeit eingeschätzt | |
| wird. | |
| Wie glaubt er etwa mit Aggressionen oder emotionalen Stresssituationen | |
| umzugehen? Und es gibt hirnorganische Testverfahren. Die Auswertung all | |
| dessen bekommen wir Gutachter und an uns ist es, zu schauen, was uns die | |
| Ergebnisse sagen. | |
| Sehen Sie die Gefangenen auch? | |
| Wir explorieren den Gefangenen sehr ausführlich. In der Regel werden die | |
| Gefangenen, egal aus welcher Anstalt in Niedersachsen sie kommen, für die | |
| Begutachtungszeit hierher in die JVA Hannover überstellt. Wenn Sie aus dem | |
| Fenster schauen, sehen Sie die Hochhäuser auf der anderen Hofseite? | |
| Blassgelbe Fassade, viele Fenster, Gitter, am Flachdach hier und da | |
| Stacheldraht. | |
| Genau, in einem dieser Blöcke sind in der oberen Etage mehrere Hafträume | |
| für diejenigen reserviert, die wir begutachten, und im unteren Bereich | |
| befinden sich die Räume, in denen wir mit den Gefangenen sprechen. | |
| Wie oft sehen Sie die Gefangenen, die Sie begutachten? | |
| Bei mir sind es eigentlich immer drei bis fünf Gespräche. Wir sind hier | |
| Anhänger von mindestens zwei Gesprächsterminen, weil es ja unterschiedliche | |
| Störfaktoren gibt. Es kann sein, dass er beim ersten Gespräch einen | |
| schlechten Tag hatte und man denkt, mmh, ist der grummelig. Und beim | |
| zweiten Gespräch hat man dann einen völlig entspannten Menschen vor sich. | |
| In besonders schwierigen Fällen sprechen wir zu zweit mit dem Gefangenen. | |
| Wann ist ein Fall leicht? | |
| Leicht ist so ein Wort – wir haben es ja nur mit Menschen zu tun, die | |
| schwere Verbrechen begangen haben. Aber gut, leicht ist, wenn etwa jemand, | |
| der wegen sexuellen Missbrauchs inhaftiert ist, schon vorher mehrere | |
| Missbrauchsdelikte begangen hat, vielleicht schon mehrmals übereinstimmend | |
| begutachtet wurde und im Gespräch auch noch berichtet, dass er sexuelle | |
| Phantasien hat, die auf Kinder ausgerichtet sind und dass er | |
| behandlungswillig ist. Leichte Fälle sind also die, in denen Diagnose und | |
| Prognose eindeutig sind. | |
| Und wann wird es schwierig? | |
| Wenn zum Beispiel andere Gutachter zu völlig verschiedenen Einschätzungen | |
| gekommen sind. Oder wenn Sie einem sehr freundlichen und sehr zugewandten | |
| Menschen begegnen. Wenn also das, was Sie im Gespräch sehen und spüren, | |
| überhaupt nicht zu dem passt, was man aus der Akte über die Vorgeschichte | |
| weiß. | |
| Kommt das oft vor? | |
| Nicht oft, aber es kommt vor. Und das sind die eindrücklichen Fälle, die in | |
| Erinnerung bleiben. | |
| Bekommen Sie auch Fotos von den Opfern zu sehen? | |
| Wir bekommen die Personalakten der Gefangenen, da sind die Urteile drin, | |
| der Bundeszentralregisterauszug und der Vollzugsverlauf. Standardmäßig | |
| fordern wir Ermittlungsakten an. Mal sind Opferfotos dabei, mal nicht. | |
| Wenn es welche gibt, schauen Sie sich die Bilder sicher an. Ist das schwer? | |
| Tatsächlich liegt die Schwelle, an der man sehr erschrocken ist, höher als | |
| bei Menschen, die sich zum ersten Mal eine Ermittlungsakte anschauen. Es | |
| gibt natürlich auch Sachen, die mich noch erschrecken, weil sie sehr | |
| nachdrücklich sind. Wir fangen uns dann im Kollegenkreis auf und in | |
| seltenen Fällen haben wir uns Akten auch schon gemeinsam angeschaut. Und | |
| ich suche nicht unmittelbar danach den Täter zum Gespräch auf, sondern | |
| klappe die Akte zu, sammele mich und lasse ein paar Tage Abstand, um | |
| demjenigen neutral gegenüberzutreten. So wie es die Begutachtung erfordert. | |
| Klappt das immer? | |
| Häufig klappt das. Es ist ja nicht so, dass Sie auf einen Menschen treffen, | |
| dem Sie das Delikt ansehen. Sie begegnen häufig einem ganz normalen | |
| Menschen. | |
| Wieso wollen Sie eigentlich mit Verbrechern arbeiten? | |
| Das hat sich im Laufe meines Studiums herauskristallisiert. Es gab an | |
| unserer Uni den Zweig Rechtspsychologie und der war angekoppelt an ein | |
| forensisches Institut in Berlin, wo es verschiedene Vorlesungen in dem | |
| Bereich gab. Da bin ich immer hingegangen und habe beschlossen, die | |
| notwendigen Praktikumsstunden in der JVA zu machen. Das hat mein Interesse | |
| geweckt. | |
| Was genau hat Sie interessiert? | |
| Was Menschen bewegt, Delikte zu begehen. Und was noch hinter einer Tat | |
| steckt, außer jemandem, der ein Delikt begeht. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Naja, wenn man mit diesem Bereich überhaupt nichts zu tun hat, hat man | |
| immer so ein Bild im Kopf: Straftäter? Oh Gott! Wenn man sie kennenlernt, | |
| weiß man, okay, der ist jetzt Straftäter. Aber er ist eben nicht nur | |
| derjenige, der ständig alte Omas ausraubt, sondern hat möglicherweise | |
| parallel ein ganz normales Leben geführt – oder ein ganz verkorkstes. | |
| Man kann einen Straftäter nicht nur auf Straftaten herunterbrechen. Und ich | |
| habe in der JVA erlebt, dass Inhaftierung auch eine ganz schwere Situation | |
| sein kann, in der man die Menschen unterstützen und begleiten kann. Man tut | |
| auch ein stückweit etwas für die Gesellschaft, indem man schaut, dass die | |
| Gefangenen nicht mehr die schiefe Bahn einschlagen. | |
| 2008 wurde das Prognosezentrum von allen Parteien begrüßt. Aber es hieß | |
| auch, Prognosen und Gutachten seien schön und gut, brächten aber nur etwas, | |
| wenn ausreichende Resozialisierungsmaßnahmen vorhanden seien. Daran fehlte | |
| es damals. | |
| Der Vollzug arbeitet ständig daran, die Behandlung der Gefangenen zu | |
| verbessern. Im Zuge der Diskussion wurden verschiedene Projekte | |
| installiert, in denen Gefangene zum Beispiel sechs Monate begleitet wurden | |
| und geschaut wurde, wo man denjenigen beruflich unterbringen könnte. Bei | |
| einigen Gefangenen geben wir zum Beispiel die Empfehlung, dass er nach der | |
| Entlassung psychotherapeutisch angebunden werden sollte – mit dem Wissen, | |
| dass das ein schwieriges Unterfangen ist. Es betrifft vor allem den Bereich | |
| der Nachsorge. | |
| Was ist das Problem? | |
| Wir haben schon ohne Straftäter einen Therapeutenmangel. Und viele | |
| Therapeuten wollen keine Straftäter behandeln. | |
| Wieso nicht? | |
| Psychotherapeuten müssen nicht zwingend forensische Erfahrung haben und | |
| viele haben einfach Berührungsängste. Was ich auch verstehe. Wenn mir | |
| jemand ausgiebig von seinen pädosexuellen Phantasien erzählt, ist das für | |
| jemanden, der nichts mit Gefängnis oder Forensik zu tun hat, sehr | |
| schwierig. Da sagen viele, das ist eine Klientel, mit der möchten wir | |
| einfach nicht arbeiten. Es fällt also manchmal schwer, die Straftäter an | |
| einen Therapeuten zu vermitteln, selbst wenn er selbst es gern will. | |
| Ihre Prognosen haben bedeutend andere Konsequenzen als, sagen wir: die | |
| Wettervorhersage. Sind Sie sich dessen immer bewusst? | |
| Das muss im Kopf immer eine Rolle spielen. Was weniger eine Rolle spielen | |
| sollte ist, zu denken, oh Gott, was kann das für Konsequenzen haben und da | |
| geht bestimmt was schief! Das wäre für den Begutachtungsprozess eher | |
| hinderlich. Aber es ist ein Job mit großer Verantwortung. | |
| Wie gehen Sie damit um? | |
| Wir versuchen der Verantwortung durch Qualität gerecht zu werden. Wir | |
| machen keine Augenblicksdiagnostik und agieren vom Bauchgefühl her. Wir | |
| versuchen die Prognose soweit es geht auf sichere Füße zu stellen. | |
| Die meisten von uns erzählen zu Hause von ihrem Job. Wie halten Sie es | |
| damit? | |
| Jemand, der damit nichts zu hat, kann nur schwerlich Verständnis entwickeln | |
| und würde sagen, oh Gott, mit was setzt du dich denn da auseinander? Ich | |
| sage schon, dass ich einen stressigen Tag hatte oder es nicht so gut lief, | |
| aber Details gehören da nicht hin. Ich versuche das auch für mich zu | |
| trennen – als Schutz. | |
| Sie müssen damit rechnen, dass jemand trotz eines positiven Gutachtens | |
| rückfällig wird. Und die Toleranzschwelle gegenüber Straftätern geht in der | |
| Gesellschaft momentan gegen null. Berührt Sie das? | |
| Noch vor ein paar Jahren wurden mehr Haftlockerungen gewährt, um die Leute | |
| angemessen auf die Entlassung vorbereiten zu können. Diese Bereitschaft ist | |
| nicht mehr so groß. Ich wünsche mir, dass sich das verändert, weil ich bei | |
| vielen eher ein Risiko sehe, sie nach dem Ende des Strafvollzugs einfach | |
| auf die Straße zu setzen, als eine Entlassung langfristig und gut | |
| vorzubereiten. Dafür müsste es in der Gesellschaft mehr Toleranz geben. | |
| 23 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilka Kreutzträger | |
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