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# taz.de -- Christian Semler über Tabus: Verbieten verboten
> 2002 schrieb Christian Semler über Tabus, die nicht in eine aufgeklärte
> Welt passen und trotzdem dauernd präsent sind. Am Freitag wäre Semler 75
> geworden.
Bild: Sprach- und Denkverbote kriegt man per Gesetz nicht durch. Ein Glück
Was meinte Angela Merkel nur, als sie nach dem Erfurter Amoklauf sagte:
„Die Schwelle, Gewalt anzuwenden, scheint zuzunehmen. Gewalt muss
tabuisiert werden.“ Meinte sie statt Schwelle Welle oder statt zuzunehmen
abzusinken? So unklar die Prämisse, so eindeutig die Schlussfolgerung: Ein
Tabu muss her.
Welchem Politiker man sich auch zuwendet, überall die Forderung nach Tabus
– oder, ganz im Gegenteil, die Forderung, entschlossen gegen Tabus
vorzugehen. Otto Schily beispielsweise will ganz entschieden die Fragen der
Zuwanderung und des Asyls ganz ohne Tabu (sprich elementare
menschenrechtliche Erwägungen) diskutieren, wobei ihm SPD-Genosse
Wiefelspütz mit der Bemerkung sekundiert, dass die Regelanfrage beim
Verfassungsschutz anlässlich von Einreisen nach Deutschland kein
grundsätzliches Tabu mehr darstelle. Das geht zu weit – denn welchen Nutzen
könnte ein relatives Tabu noch stiften?
Das Wort Tabu, das Ethnologen vor gut hundert Jahren aus der Südsee
mitbrachten, erwies sich insofern als nützlich, als es einen Sachverhalt
beschrieb, für den es bisher kein Wort gegeben hatte. Tabu ist, was man
nicht tun, worüber man nicht einmal reden darf. Nicht darf – im Idealfall,
wenn das Tabu wirklich funktioniert, nicht einmal kann.
Vor dem Siegeszug des Wortes Tabu musste man zu Notbehelfen greifen. So
heißt es, mitten im Zeitalter der Aufklärung, im preußischen Allgemeinen
Landrecht unter Paragraf 1069: „Sodomitierey und andere dergleichen
unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abschäulichkeit hier nicht genannt
werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung ihres Andenkens.“ Die
Aufklärungsjuristen hatten bei ihren verdienstvollen Bemühungen übersehen,
dass Sprach- und Denkverbote nicht per Gesetz verhängt werden können. Sie
sind einfach Bestandteil einer Kultur und unterliegen deren Wandlungen. Sie
belegen eine ganze Sphäre, die des Sakralen, der Sexualität und des Todes
eben, mit dem Tabu. „Ficken“ zu sagen war noch vor einer Generation tabu,
jetzt gehört es zum Sprachgebrauch auch der besseren Gesellschaft.
## Tabus wirken „von innen“
Tabus herrschen sich – anders als Normen – den Mitgliedern einer
Gesellschaft mit elementarer Gewalt auf. Tabus wirken „von innen“. Es war
dieser Sachverhalt, der Dr. Freud dazu brachte, Tabus mit den Vorstellungen
von Zwangsneurotikern zu vergleichen. Die Pointe von „Totem und Tabu“: Was
wir mit besonderer Intensität begehren, tabuisieren wir. Und wenn das
Begehren übermächtig wird, entlädt es sich in Zwangshandlungen.
Im heutigen Sprachgebrauch wird deshalb so gerne zum Begriff des Tabus
gegriffen, weil ihm nach wie vor etwas anhaftet vom Schutz der Heiligkeit
vor dem Profanen, weil es eine Idee der allgegenwärtigen Kommunikation
entzieht. Die Rede vom Tabu schwächt sich zunehmend ab, sie umschreibt
heute den Versuch, für Felder des Politischen eine Art negativer Konvention
durchzusetzen, diese Themen aus der Diskussion zu halten. Ist das nun gut
oder schlecht?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten in der deutschen Gesellschaft solche
negativen Konventionen vor allem bei der Weigerung, über alles zu reden,
was mit dem Mord an den europäischen Juden zusammenhing. Es gibt
Philosophen wie Hermann Lübbe, die die Befolgung dieses „Tabus“ in den
Fünfzigern als gänzlich unumgänglich ansahen. Das Beschweigen der
Vergangenheit sei Voraussetzung für einen seelischen Heilungsprozess
gewesen, der schließlich den Wiederaufstieg Deutschlands ermöglicht habe.
Die 68er sahen das bekanntlich anders, und die Wirklichkeit hat ihnen Recht
gegeben. Das Verdrängte kehrte zurück. Für die demokratische Kultur in
Deutschland hat sich der Tabubruch schließlich segensreich ausgewirkt.
## Dumpfheit muss ans Tageslicht
Soll es heute im Verhältnis der Deutschen zu den Juden respektive zum Staat
Israel Tabus geben? Hier sollten wir differenzieren. Gänzlich unannehmbar
scheinen mir Tabubrüche der Art, wie sie im Jüdischen Historischen Museum
in New York zu sehen waren: Fotos, auf denen KZ-Opfer als Material für
Collagen dienen, auf denen sich der Künstler selbst inszeniert. Diese Art
von Tabubrüchen verhöhnt die Opfer, ohne zur Aufklärung über die Verbrechen
beizutragen. Sie nimmt den Toten ihre Würde.
Ganz anders verhält es sich bei antijüdischen Klischees, die in Deutschland
viel verbreiteter sind, als wir gemeinhin annehmen. Sie zu tabuisieren ist
falsch, denn nur, wenn sie offen geäußert werden können, ist Aufklärung
über den Antisemitismus möglich. Falsch war es deshalb, einen Bürgermeister
zur Unperson zu machen, der meinte, das Defizit im städtischen Haushalt sei
nur zu schließen, wenn man „ein paar reiche Juden erschlage“. Dumpfheit
muss ans Tageslicht, sonst könnten wir noch dem Trugschluss erliegen, in
einem Land wie Polen, wo es noch judenfeindliche Redewendungen und
Sprichwörter zuhauf gibt, sei der Antisemitismus endemisch, bei uns, wo
sich die Witze hinter vorgehaltener Hand zugeraunt werden, sei alles in
Ordnung.
Soll man sich mit Norman Finkelsteins Behauptungen, jüdische
Weltorganisationen hätten KZ-Opfern Gelder vorenthalten, auseinander
setzen? Oder soll man das Thema tabuisieren aus Angst vor Beifall aus der
rechtsradikalen Ecke? Natürlich muss man sich mit ihm beschäftigen, sonst
wuchern sie als Fama weiter. Der Historiker Ulrich Herbert hat dies in
vorbildlicher Weise getan, Richtiges von Falschem getrennt und damit ein
Stück Aufklärungsarbeit geleistet.
„Holocaust“ ist ein sprachlicher Euphemismus, ein Vermeidungswort, das es
uns erlaubt, vom Mord an den europäischen Juden zu sprechen, ohne ihn beim
Namen zu nennen. Er ist einfach „die Katastrophe“, die über uns
hereingebrochen ist. Statt über den „Holocaust“ zu philosophieren, sollten
wir uns dem mühseligen Geschäft widmen, über das genaue Warum und Wie des
Mordes an den Juden historische Fakten ans Licht zu fördern. Dazu gehören –
als elementare Voraussetzung – der historische Vergleich und die
historische Einordnung.
Es führt gänzlich in die Irre, wenn die Einzigartigkeit des Mords an den
Juden postuliert, der Diskussion entzogen, zum Tabu erklärt wird. Heraus
kommt nur die Konkurrenz der Opfer und der Run auf die knappe Ware
Aufmerksamkeit. Deshalb: Vorsicht bei dem Wort Tabu!
13 Dec 2013
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