# taz.de -- Erinnerungen an Christian Semler: Über die Macht hinaus | |
> Am Donnerstag vor 80 Jahren wurde Christian Semler geboren. Er war ein | |
> 68er, Freund von Rudi Dutschke, später Maoist, dann taz-Redakteur. | |
Bild: Christian Semler 1994 an seinem Schreibtisch in der taz-Redaktion | |
Der Neugierige | |
Christian hatte die seltene Gabe, schrankenlos neugierig zu sein. Wurde ein | |
neuer Imbiss in der Rudi-Dutschke-Straße eröffnet, war Christian gleich | |
dort und bestellte das Gericht, das besonders abseitig klang. In der taz | |
kannte er alle Praktikanten, auch ganz frische, weil er jeden Unbekannten | |
sofort in ein Gespräch verwickelte. Angstfrei stürzte er sich in alle | |
Themen, die ihm relevant schienen. | |
Die Finanz- und Eurokrise fesselte ihn. Er wusste über wirtschaftliche | |
Zusammenhänge wenig, das gab er freimütig zu. Doch anfängliches Nichtwissen | |
war für ihn nie ein Hindernis, sich in ein Thema zu vertiefen. Christian | |
folgte einem unverwechselbaren Ansatz, den man | |
historisch-literarisch-psychologisch nennen könnte. Wirtschaft erklärte | |
sich bei ihm nicht allein durch Zahlen, sondern auch durch Geschichte und | |
nationale Selbstbilder. | |
Einer seiner eindringlichsten Texte entstand mitten in der Eurokrise. Es | |
ging um Griechenland, damals ein Dauerthema, aber so hatte noch niemand | |
darüber geschrieben. Der Artikel spannte sich vom byzantinischen Reich bis | |
zur Bild-Zeitung, von Hölderlin bis Hitler. Wie schade, dass Christian den | |
Brexit nicht mehr erlebt hat. Wir hätten viel gelernt, über die Briten, | |
auch über die Deutschen. | |
Christian schrieb am liebsten, besten und schnellsten, wenn er sich | |
geärgert hatte. Dann hackte er mit zwei Fingern auf seine Tastatur ein. | |
Dennoch klangen fast alle Texte am Ende versöhnlich. Denn er hatte einen | |
Humor, gegen den auch seine Wut nicht ankam. Auf seinen subversiven Witz | |
konnte man sich stets verlassen. | |
Für die taz-Silvesterausgabe 2008 wurde er gefragt, welcher Satz ihm im | |
vergangenen Jahr am besten gefallen habe. Die knappe Antwort: „‚Mehr | |
Kapitalismus wagen‘ (Friedrich Merz angesichts der weltweiten Krise)“. Wie | |
schade, dass Christian nicht mehr miterleben konnte, wie Merz politisch | |
auferstand, um sich noch einmal an Merkel zu rächen. Christian hätte sich | |
und uns so gut amüsiert. | |
Ulrike Herrmann | |
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Der Glückliche | |
Wir saßen in der taz ein paar Jahre an Schreibtischen gegenüber, in einem | |
kleinen Raum im 6. Stock unter dem Dach. Im Winter war es zu kalt, im | |
Sommer zu heiß. Der Vorteil: Wir hatten unsere Ruhe, in einer Tageszeitung | |
ein unschätzbarer Wert. Wir waren mehr als Kollegen, man kann sagen, wir | |
waren befreundet. | |
Christian war ein 68er-Anführer gewesen, dann zehn Jahre Chef einer | |
maoistischen Gruppe. Wir haben in unserer zugigen Stube über alles geredet, | |
Politik, Kunst, Frauen, Filme, Fußball, Kommunismus. Wenig über ML-Gruppen. | |
Viele waren 1969, wie mir ein paar 68er-Aktivisten bei einer Recherche | |
erzählten, mehr als verblüfft, dass damals ausgerechnet der kluge, | |
freundliche Semler zu den Maoisten ging. | |
Man konnte darüber mit Christian sprechen. Aber es war, anders als bei den | |
allermeisten anderen Themen, nicht interessant. Er hat die ML-Zeit nicht | |
öffentlich bereut, sich nicht distanziert, keinen Schlüsseltext dazu | |
verfasst. Er hat nicht viel darüber geredet, aber wenn, jenen Ton öliger | |
Vertrautheit gemieden, mit der 68er manchmal ihre Irrtümer darboten. | |
Das Erstaunlichste war sein verschwenderischer Umgang mit seinem Wissen. | |
Man erfuhr in Gesprächen nicht nur, was man wissen wollte, sondern auch | |
manches, von dem man noch nicht mal gewusst hatte, dass es existiert. Und | |
egal wer vorbei kam, ob Cohn-Bendit oder ein verpeilter Praktikant – | |
Christian schenkte allen gleichermaßen Aufmerksamkeit, ohne | |
Wichtigkeitsabstufungen. | |
Er verstreute Freundlichkeit und Wissen auf eine basisdemokratische Weise. | |
Ich glaube, das war, neben präzisen Texten über kommunistische | |
Gewaltgeschichte, seine Schlussfolgerung aus den zehn Jahren Maoismus. Er | |
war unabhängig, wollte keinen Posten in der taz-Hierarchie und leistete | |
sich den Luxus, niemand nach Gesichtspunkten von Macht zu betrachten. | |
(Probieren Sie das mal, gar nicht so einfach.) Ich glaube, er war glücklich | |
in der taz. | |
Stefan Reinecke | |
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## Der Flaneur | |
Die Morgenkonferenz lief schon ein bisschen, wenn Christian seinen | |
Aktenkoffer auf den Kaffeetresen stellte. Er strahlte genießerische | |
Gelassenheit aus, Jacke und Mütze ließ er an beziehungsweise auf. Auf | |
Redaktionskonferenzen sind die Ärmel gern wichtig hochgekrempelt, und vor | |
lauter Seitenplänen und Themenplänen übersehen wir Planer manchmal die | |
schönsten Themen für unsere Seiten. Aber dann war Christian da, hörte sich | |
ein wenig rein in die Konferenz und hatte bald eine Idee. | |
Von Christian Semler konnte man sich etwas abgucken. Eines war, dass die | |
journalistische Idee nicht im Organigramm entsteht, sondern im Gespräch. Je | |
mehr Redaktionen den ganzen Anforderungen gerecht werden müssen von Website | |
und Wochenende, von Tönen, Texten und Bildern, desto wichtiger ist das. | |
Journalisten sollten flanieren können. | |
Mit Christian konnte man durch die Ereignisse und Phänomene streifen, die | |
Ausstellung zu Calvin, die ICE-Strecke München–Berlin, warum Ypsilanti doch | |
regieren darf, der Zivildienst weg muss und vor was Stoiber Angst hat. | |
Einmal flanierten wir mittags zu Curry 36 am Mehringdamm, mit der U 6 nur | |
zwei Stationen. Es war auf dem Höhepunkt der BSE-Krise, Fleisch war | |
verrufen, ganz gleich von welchem Tier, uns schmeckte es. Man hätte schon | |
darüber einen Text schreiben können, aber wir sprachen über was Großes: Das | |
taz-Gespräch zwischen den besten Wurstbratern West von Curry 36 und den | |
besten Wurstbratern im Osten, Konopke an der Eberswalder Straße. Irgendwann | |
machen wir das. Idee: Christian Semler. | |
Georg Löwisch | |
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Der Versöhner | |
Morgens, wenn die taz-Redaktion noch gähnend leer war, geschah es häufig, | |
dass Christian Semler den Chef vom Dienst an seinem Schreibtisch besuchte, | |
um ihn bei seiner Arbeit – dem Ordnen von Agenturmeldungen – auf | |
angenehmste Art zu unterbrechen. Im Gegensatz zu diesem war Semler stets | |
hellwach. | |
Geredet wurde da über so ziemlich jedes politische Thema, von der Krise der | |
Sozialdemokratie bis zu den Verwirrungen der K-Grüppler in den 1970er | |
Jahren. Ein Komplex war stets allgegenwärtig: das Verbrechen der Nazis und | |
seine Folgen. | |
Semler, 1938 geboren, konnte sich noch unscharf an das Kriegsende erinnern, | |
das er in Bayern erlebte, an ratternde Panzer, lachende GIs und gedrückte | |
deutsche „Volksgenossen“. Die NS-Zeit zog sich durch seine taz-Texte. Mit | |
bitterer Ironie stellte er fest, dass nun, „nachdem alle Beteiligten unter | |
der Erde sind“, die Berliner Ministerien begannen, ihre braune | |
Vergangenheit auszuleuchten – und würdigte doch dieses Bemühen. Mit | |
Messerschärfe machte er auf den inflationären Gebrauch des Begriffs | |
„Appeasement“ bei der angeblich zu langmütigen Politik gegenüber Putin | |
aufmerksam: Es wäre Aufgabe der heutigen Kritiker einer | |
Beschwichtigungspolitik, nachzuweisen, „dass hinter der proklamierten | |
Friedenspolitik der feste Wille steht, einen Krieg zu entfesseln. An einer | |
solchen Beweisführung fehlt es aber.“ | |
Wenn Semler ein Herzensthema hatte, dann war es Versöhnung mit Polen. Er | |
ging den Dingen auf den Grund und kritisierte, dass schon Gustav Stresemann | |
in der Weimarer Zeit gegenüber dem östlichen Nachbarn revanchistisch war, | |
im Gegensatz zu seinen versöhnlichen Schritten gegenüber Frankreich. Wenig | |
Gutes empfand Semler bei dem Versuch der Vertriebenenfunktionäre, sich | |
umstandslos den NS-Opfergruppen anzuschließen, wiewohl er kritisierte, dass | |
die Linke in den Heimatvertriebenen viel zu lange nur Revanchisten, nicht | |
Menschen erblickte. | |
Schwere Kost am frühen Morgen, bald darauf in feine Texte gegossen. Sie | |
sind lesenswert, noch immer. | |
Klaus Hillenbrand | |
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Der Online-Semler | |
Was gäbe man im Angesicht der gegenwärtigen Malaise unserer human condition | |
für ein Gespräch mit Christian Semler. Nicht wegen allwissender Antworten, | |
sondern weil er fragende Haken schlagen würde. [1][Der Online-Semler – das | |
Archiv der Texte von Christian Semler auf taz.de] – kann dieses Gespräch | |
nicht ersetzen. Aber er ist ein freundlicher Begleiter, der hilft, das | |
Reflexionsvermögen zu schärfen. | |
1.908 Texte umfasst das Archiv bis jetzt, ein Reichtum an Schriften, der | |
vom Nachruf auf Rudi Dutschke bis zu Betrachtungen über surrealistische | |
Weltkarten reicht. Knapp 25 Artikel fehlen noch bis zur Vollständigkeit, | |
sie folgen 2019. Es finden sich dort noch bemerkenswerte Fundstücke, „Ein | |
Gespräch zur Zukunft“ zum Beispiel, das Hans Magnus Enzensberger 1967 mit | |
Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler führte. Oder „Malewitsch | |
und die Bolschewiki“, eine andere Form der Ausstellungskritik im Auftrag | |
der Deutschen Bank. | |
Und wer es analog liebt: Seine Text- und Essaysammlung „Kein Kommunismus | |
ist auch keine Lösung“ ist weiterhin erwerbbar. Ein sinnvolles | |
Weihnachtsgeschenk. Wer sich einen Appetizer wünscht, der gebe im | |
onlinesemler „Meine kleine Kapitulation“ ein. | |
Eva Berger | |
13 Dec 2018 | |
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